Ich werde nicht hassen

5. Dezember, 2. Advent, Sonntag, klar. Hamburger Kammerspiele, 20:30 Uhr.
Ich habe es geahnt. Ich gehe oft ins Theater, weil es für mich einer der schönsten Orte ist, wo ich mich aufhalten kann. Ich gehe instinktiv und versuche nichts zu erwarten, dann werde ich immer wieder überrascht. Früher habe ich versucht, mir schon vorher etwas vorzustellen, was mir am Ende meist zwei Möglichkeiten beschied: Entweder war ich froh oder enttäuscht. Seit Jahren mache ich es nun anders und habe andere Möglichkeiten: Ich habe anschließend Fragen und konstruktive Kritik oder bin einfach glücklich, selig, inspiriert. Und nun dies hier. Ja, ich habe es geahnt – geahnt, dass es hier anders sein wird.
Ich kenne Mohammad-Ali Behboudi erst seit kurzer Zeit, wir waren Geschwister auf der Bühne Im NATHAN am EDT. Nun wollte ich meinen „Bruder“ in der Bühnenadaption des Buches von Izzeldin Abuelaish Du sollst nicht hassen spielen sehen. Aber – das hat er scheinbar gar nicht getan; spielen, meine ich.
Die wesentlichen Punkte der schicksalshaften Geschichte des palästinensischen Arztes ist schnell erzählt: Im Januar 2009 wurden in das Schlafzimmer seiner Töchter israelische Panzergranaten gefeuert, sie und ihre Cousine waren sofort tot, er war dabei. Direkt im Anschluss gibt er ein Telefoninterview, kommuniziert seitdem ohne Unterlass die Notwendigkeit des Friedens zwischen den beiden Völkern, schreibt 2011 dieses Buch. 2014 bringt das THEATERHAUS Stuttgart den Monolog Ich werde nicht hassen unter der Regie von Ernst Konarek auf die Bühne. Seitdem tourt der iranisch-stämmige Schauspieler, der seit über 30 Jahren auf deutschsprachigen Bühnen unterwegs ist, mit diesem Goldstück für den Frieden.
Ich sitze hier also mit meiner Familie in der 5. Reihe der Kammerspiele und bin wieder einmal überrascht. 90 Minuten lang. Ich sehe einen Menschen, einen Mann, der mir erzählt, wie er aufgewachsen ist, der etwas machen wollte aus seinem Leben. Ich sehe vor allen Dingen, was das bedeutet, so ein Leben in Palästina, wie man sich durch den Alltag kämpft, kämpfen muss, wenn man nicht abschmieren will mit seiner Familie. Ich erfahre von Traditionen, kleinen Geschichten, die mich schmunzeln lassen, ich sehe Izzeldin tanzen, beobachte seine sympathische Scheu, wenn er uns erzählt, was ihn bewegt, ich sehe ihn weinen und dann schnell weitererzählen, nur nicht hängen bleiben am Schmerz, immer weiter, nur immer weiter. Die Bühne von Dobmaier/Hochreiter ist pur, kein Krümel zuviel und der Doktor findet sich bestens selbst zurecht; faltet er den Tuch-Haufen auseinander, ist man zu Haus bei seiner Familie. Der Mann dort oben redet mit mir, mit uns, er spricht heiter und schnell. Wir verstehen ihn, der fast verzweifelt, wenn er nicht zu seiner sterbenden Frau kann, nur weil die Grenze wieder einmal gaza-streifen-dicht ist und er warten muss, stundenlang. Das alles erzählt mir dieser Fruchtbarkeitsdoktor, der zufällig Palästinenser ist und in einem israelischen Krankenhaus arbeitet. Er tut sich nicht leid, er beklagt sich nicht, er spricht zu mir. Kaum einer hustet im Saal, selten im Theater, wie wir wissen, denn es ist so leicht ihm zuzuhören und ich will das alles wissen. Dann kommt die Stelle, die ich gefürchtet habe: die Panzergranaten. Schlicht, zügig und klar schildert er detailliert was genau die Granaten an seinen Kindern getan haben, nicht nur ich halte den Atem an und traue meinen Ohren nicht. Kann man das überleben? Als Mensch? Als Vater? Als Augenzeuge? Da bricht er fast ab, der Izzeldin, schnappt sich einen Stuhl, setzt sich gradezu frisch an den Bühnenrand – ach ja, ich bin ja im Theater – und bittet uns inständig, miteinander zu sprechen. Weil es sonst nie aufhört. ja, ich habe verstanden, begriffen, geschnallt, Dr. Abuelaish. Und Schluss.
Ich habe am 2. Advent eine Reise gemacht, die mich tief berührt hat.
Merkwürdig, aber ich bin stolz auf meinen Bruder, der weder mit mir verwandt ist, noch Medizin studiert hat.
Was soll ich sagen? Geht rein, sage ich.
Noch einmal, am 4. Advent hier in den Hamburger Kammerspielen, das ist der 18. Dezember, könnt auch ihr euch erzählen lassen und ganz gefahrlos in den Gaza-Streifen reisen. Wenn ihr wollt. Wir sehen uns dort. Ich brauch‘ das. Und – ich werde nicht hassen.
Ich wünsche Euch einen schönen 3. Advent.
Keep you posted,
Eure Karime.

NATHAN ensuite und Theater inside.

Am Ernst Deutsch Theater an der Mundsburg vorbei, scharf rechts um die Ecke, runter vom Fahrrad, Zahlencode eintippen, ab durch den Bühneneingang und hinein ins Paralleluniversum. Seit der Premiere am 29. September an fast jedem Tag spielen wir hier am größten Privattheater Deutschlands dreißigmal Nathan der Weise von Gotthold Ephraim Lessing, das ewige Stück um die hoffentlich eines Tages gelöste Frage, welche Religion die wahre sei; dann ist Schluss und die nächste Produktion dran, wir spielen also ensuite. Anders als am Staatstheater, das ein Repertoire von über dreißig Stücken im Spielplan beherbergt, mit all den dazugehörigen Bühnenbildern, die gelagert werden müssen, den Schauspielern, die bereitstehen. Ensuite heißt, der Lappen (Vorhang) geht jeden Abend hoch, manchmal zweimal am Tag. Ist die Premiere einmal raus, geht es darum, jede Vorstellung frisch aus sich zu holen, egal wie man sich fühlt, was der Tag gebracht hat und wenn nur einer seinen Part herunterleiert, ist leicht der ganze Abend im Eimer. Erkältung, Knieschmerzen, Finger verstaucht, das wird da unten keiner merken, das merken nur die Kollegen hinter der Bühne, darum kümmert sich Sonja, das wird schon. Theater ist ein Wunderland, das kann man immer wieder neu erleben. Ist die Premiere gelungen – und man sagt, sie sei es – verhält es sich nun wie in der Demokratie, um deren Ausgewogenheit und Stabilität man sich immer wieder neu bemühen muss.

Mit einem lauten Hallo! eine Treppe tiefer Richtung Bühnentechnik hechte ich mit einem Gruß ins Konver (Konversationszimmer, hier hält man sich zwischendurch auf und qualmt gegebenenfalls, die anderen qualmen mit) oder gleich daran vorbei in die Garderobe, rein ins Kostüm, danke Sonja oder Miri und ab in den ersten Stock, denn ich bin die erste in der Maske. Gesine und Sarah oder Nora sitzen ein Zimmer weiter und erinnern mich an Dornröschen. Anmutig und geduldig knüpfen sie noch an den Perücken für die kommenden Produktionen Bunbury und das Weihnachtsmärchen Hänsel und Gretel, sie erwarten mich bereits. Ich setze mich, Zeit zu entspannen, denn Gesine braucht gut und gern 45 Minuten, um aus mir die Schwester eines Sultans zu frisieren und zu malen. „Augen bitte schließen“ heißt die Losung und ich ergebe mich blind in den Haufen Haarnadeln, Sprühkleber, Lidschatten und Puder, da kann man schon mal wegnicken. Langsam trudeln alle ein: aus Jessica (Kosmalla) wird Daja, aus Wolf (Dietrich Sprenger) der weise Nathan, Günter (Schaupp) wird ein Derwisch, mein Bühnenbruder Mohammad-Ali (Behboudi) muss noch auf die sultanische Metamorphose warten, bin noch nicht fertig. Ich höre den Tempelherren – noch ist er Jonas (Minthe) und hat Mainz 05 im Kopf – die Treppen hochstiefeln, als sweet seventeen Paula (Bierend) sich zur Recha flechten lässt. Pascal (Pawlowski) zeigt uns schnell noch ein Video seiner kleinen Tochter, das uns bezaubert, bevor er zum Klosterbruder mutiert. „Guten Abend an alle, noch eine halbe Stunde bis zur Vorstellung, dies ist das erste Zeichen“, raunt Inspizient Ralf durch alle Lautsprecher im Haus. Endlich bin auch ich fertig, auf dem Weg zur Bühne treffe ich den Patriarchen – Quatsch Hartmut (Schorries) – und Souffleuse Anna. Schöne Vorstellung, ja danke, dir auch, viel Spaß, eine Umarmung manchmal oder ein Streichen über den Arm und ab in die Ecke hinter der Bühne, wo der Sultan bereits auf mich wartet. Der Eiserne (Vorhang) ist unten, Nathan sitzt konzentriert auf seinem Koffer, Daja steht ihm zugewandt, ein Nebelstoß aus der Maschine, die Musik setzt ein, der Eiserne hebt sich und los. Ich höre zu, auch nach 15 Vorstellungen noch, entdecke Neues und noch weiter Ausgefeiltes, Szene für Szene rollt dieser Zug mit Kraft durch eine Zeit, die keine ist. Die Wege hinter der Bühne haben einen eigenen Rhythmus gebildet und wenn der Derwisch an mir vorbei die Bühnenseite wechselt, Daja auf die Bühne rauscht und wieder herunterweht, sich bereitmacht, stehe ich automatisch auf. Rechts sammelt sich Nathan für die nächste Szene. Lessing ist kein Pappenstiel, Hochleistung für die iranische Zunge von Mohammad-Ali Behboudi oder die blutjunge von Paula, die mit jeder Vorstellung so deutlich in ihrer Rolle wächst, dass es eine Freude ist. Ich habe meine Lieblingsstellen und versuche so viel wie möglich aus der Seitengasse zu sehen. So verpasse ich beispielsweise nie, wenn Tempelherr und Recha sich verlieben oder der Patriarch Nathan auf den Scheiterhaufen wünscht. Ein besonderer Satz vom Klosterbruder kann mich genauso begeistern wie die ganze Ringparabel, ich genieße die Not in Dajas Stimme genauso wie den Schlagabtausch mit dem Derwisch, dem alles Materialistische sowieso schwer auf den Keks geht und ja – ich liebe Lessing. Er ist kein Superstar wie Goethe oder Schiller, doch gäbe es beide so nicht ohne ihn, den Vorgänger, der sich nie seine Meinung hat beugen lassen und ein unbequemer, knallharter Denker war. Hochachtung und Dankbarkeit hat man ihm nicht verwehrt (hab’ ich von Reich-Ranicki geklaut), doch wird es Zeit, ihn zu lieben wie die Räuber von Schiller oder den Werther. „Ach, du liebe Zeit, Nathan, wie langweilig!“ „Oh, nee, das hatten wir auch in der Schule, da schläft man ja ein.“ „In diesen 4-Stunden-Klopper geh’ ich bestimmt nicht.“ Nein, er ist ganz wunderbar, der Nathan. Dieser Nathan. Und bestimmt keiner schläft ein in den zwei Stunden, die dieser Nathan dauert, der lebendig, klar, frech, knackig und mir reine Freude ist.
Heute ist Bergfest.
Noch einmal so viele Vorstellungen, bis zum 30. Oktober, dann ist Feierabend. Noch viele Male also, in denen ich meinen Kollegen lausche und zusehe, bis ich selbst raus muss. Noch 15 Mal Nathan, anschließend ab ins Schütter’s eins oder zwei, wie kann es anders sein.
Ich freu‘ mich auf Euch, stay tuned,
eure Karime.

 

 

Eishockey, Eva & Amsterdam 1944

LogBuch Samstag, 20. Februar 2016
Ich hatte mich verpflichtet, beim PlayOff-Spiel der HSV Regionalliga Nord die gegnerische Strafbank zu betreuen – Tür auf, Delinquent mit eindrucksvollem Trikot-Odeur rein – rumpel, rumms, fluch, setzen. Nach meist 2 Minuten den adrenalinsüchtigen Wildfang wieder plopp! (der Spieler) und rumms! (das war die Tür) aufs Eis in die Freiheit entlassen. Ich liebe Eishockey hautnah, muss allerdings dieses Thriller-Spiel nach dem 2. Drittel verlassen und ersetzt werden, denn ich muss los ins Abaton-Kino. Der Instinkt hat mich getrieben; eine Eva soundso liest aus einem Buch, Markus Lanz moderiert, dann gibt’s noch eine Doku, irgendwas mit Asyl, ach ja – No Asylum, Briefe von Otto Frank. WAS? Otto Frank, der Vater Anne Franks. Instinkt an Gehirn: Da will ich hin. Wie so oft stolpere einfach drauf zu, oft eine verdammt gute Idee….und stolpern kann ich gut. Sicherheitshalber hatte ich mir am Tag zuvor eine Karte reserviert, was nach Aussage der Telefon-Lady nicht nötig war, weil der Andrang derzeit nicht groß sei – unglaublich, wie desinteressiert die Menschen so sind, denke ich. Also locker Zeit, Parkplatz krieg ich immer. Als ich beim Kino ankomme, werde ich schmerzlich eines Besseren belehrt. Ich habe die Rechnung ohne 3nach9 gemacht, wo die Autorin am Vorabend zu Gast war. Menschentrauben drängen und wabern nun um und in den Eingang, der völlig verstopft ist, an einen Parkplatz ist nicht mehr zu denken. Kurz vor Veranstaltungsbeginn ziehe ich noch immer verzweifelt Kreise, meine Karte ist dabei zu verfallen, weil ich sie nicht rechtzeitig abholen kann. Gleich wird irgendeiner von den „massenhaft Desinteressierten“ meine Karte bekommen! Ich hole schon Luft um – was ich mir höchst selten gestatte – zu fluchen wie ein Müllkutscher, dann endlich – ja! – ein winziges Plätzchen, halblegal, für das kleine Auto. Schnell raus, Sprint zum Kino, bitte, lass‘ es nicht zu spät sein. Ich hechte vorbei an den Menschen, die am Abholschalter stehen und spreche einen Herren an, er möge doch bitte bitte meine Karte mit abholen, ja? Er zeigt auf seine Frau, sie sagt mit unverständlichem Nachdruck „ich bin seine Frau!“, ich bitte sie nochmals und verkneife mir die beruhigende Bemerkung, dass ich nur die Karte, nicht aber ihren Mann wolle. Ja, es ist noch da, mein Ticket  für eine Lesung mit Doku, Briefen von Otto Frank, Eva, ja was. IMG_1584
Befriedet lasse ich mich in einen der herrlich roten Sessel im Kinosaal fallen. Angekommen. Es geht los.
Sie heißt Eva Schloss, das werde ich nun nicht mehr vergessen. Sie spricht mit einem leichten von-allem-etwas-Akzent/Dialekt, ich höre ein wenig Wien, Holland, ein bisschen auch London vielleicht, wo sie schon längst lebt, diese 86jährige Lady. Sie liest Passagen aus ihrem neuen Buch Amsterdam, 11. Mai 1944 (ich werd’s lesen und berichten!). Zwischen den einzelnen Passagen spricht sie über damals. Herr Lanz lässt sich nicht lumpen, er macht das versiert und ganz fein.
Ich sehe nur sie.
Da sitzt sie: Aufgeräumt, gut gelaunt, auch bewegt, so ehrlich, so klar, nimmt kein Blatt vor den Mund. Einfach eine süße Frau, ganz wunderbar, ich gewinne sie lieb, das geht ganz schnell. Kein Mitleid, sondern Mitgefühl im reinsten Sinn, das empfinde nicht nur ich. Neben mir ein Paar, das sich immer wieder Tränen aus den Augen wischt. Wie ich. Wie viele andere. Es sind „gute“ Tränen, weil wir fühlen und verstehen. Das macht diese kleine, zarte Frau da oben. Nachdem sie den letzten Abschnitt aus ihrem Buch gelesen hat, ist Ruhe im Saal. Stille. Als ich wieder denkfähig bin, ist die Fragerunde längst durch. Ich versäume auch das Kaufen des Buches, will sie lieber weiter ansehen, diese Brücke hin zu einem Verständnis über eine Katastrophe, zu der ich und die nachfolgenden Generationen kaum Zugang haben. Aber ich, wir, haben jetzt Eva. Im Geiste duze ich sie.

Nach kurzer Signierpause geht es sofort weiter mit der Dokumentation No Asylum der Regisseurin und Produzentin Paula Fouce über die vor wenigen Jahren entdeckten, schriftlichen Versuche Otto Franks, seine Familie 1940 in die U.S.A. außer Landes und in Sicherheit zu bringen – vergebens, wie wir wissen. Zeitzeugen kommen zu Wort, unter ihnen auch Eva Schloss, und schließen viele Lücken darüber, was vor und nach der Deportation mit den Familien Frank und Schloss geschehen ist. Zum ersten Mal sehe und höre ich Otto Frank. Rechts von mir, ein paar Sitze weiter, sitzt Eva Schloss. Bei einigen Szenen verdeckt sie die Augen. Das kennt sie und muss es nicht mehr sehen.
Sie war da, in Amsterdam, nach dem Verrat im KZ Auschwitz-Birkenau, sie hat überlebt. Jeder, der das überlebt hat, wird mir wieder einmal klar, hat ein Wunder erlebt. Der Film lässt uns zurück mit der Frage, welche Lösung es gibt für die Gewissheit, dass so ein perfider Massenmord, auch unsinnige Ablehnung von Asylbegehren, schlicht Unmenschliches in jeder Art verhindert werden kann.
Ehrlich, die Antwort ist einfach: Verstehen wollen.
Wenn ich verstehen will, komme ich der Gewissheit ziemlich nahe, das ist der einzige Weg. Wenn ich verstehen will, interessieren mich auch die entsprechenden Filme, Bücher (ich werde berichten!), die nicht den Zeigefinger heben, sondern mit mir sprechen, mich an Zusammenhänge heranführen, zu einem Wissen, dass ich nicht habe, und die genau dies auch wissen und mich an die Hand nehmen. Denn ist der Schüler bereit, erscheint der Meister…
Obwohl die Veranstaltung nun wirklich vorbei ist, drücke ich mich noch ein wenig herum. Dann gibt es für mich noch einen kleinen, kostbaren Moment. Ich frage Eva Schloss, wo sie sich nach all den Jahren beheimatet fühlt. Pause. Dann antwortet sie mir. „Ich fühle mich eigentlich nirgendwo zuhause.“ Ja, das kann ich verstehen.
Ich nehme ihre Hand, will sie drücken, doch dann – dann küsse ich sie. Und Eva, Eva lacht.
Stay tuned, und:
Schaut, wo Ihr den Film zufassen bekommt, ich glaube fast, er hat keinen Verleih, sonst kann man bestimmt die DVD kaufen, das lohnt sich.
P.S.: Oh, ich erfahre grad, hat doch einen Verleih – Roco Film.
No Asylum Poster LAYERS 27x40

 

 

 

 

 

 

 

Anne Frank – das Tagebuch

Solange ich denken kann, ist es berühmt, das Tagebuch der Anne Frank. Nur ich hatte es noch nicht gelesen. Mit dem Strom schwimmen, Sonntag Nachmittag spazieren gehen, abends dann Tatort – nein, nicht meine Sache. In diese Schublade hatte ich die Aufzeichnungen des jüdischen Mädchens gesteckt, Abteilung: Hat ja jeder gelesen, also nicht interessant.
Bis jetzt.
Wäre da nicht die bevorstehende deutsche Erstaufführung des Stücks ANNE von Leon de Winter und Jessica Durlacher am Ernst-Deutsch-Theater in Hamburg.
Nun wollte ich es also wissen, wollte sehen, ob etwas dran ist am nun schon 70jährigen Mythos Anne Frank und auch was.
Und nun?
Vergib’ mir, du prachtvolles Mädchen. Ja, Abbitte auf der ganzen Linie. Ja, es ist wahr, du bist etwas Besonderes. Ich kenne dich, ich sehe dich, du hast Kitty, deinem Tagebuch, deiner Freundin aus Papier und damit auch mir, alles von dir gezeigt. Denn, wie du ja schreibst, kannst du im Schreiben alles ausdrücken, was dir in gesprochenen Worten oft schwerfällt. Und wie du das kannst! Schon nach wenigen Seiten muss ich dich gern haben, du freches, temperamentvolles Mädchen, heiter und mit Riesenklappe, die du nur schlecht halten kannst, wofür du immer wieder aufs Dach kriegst. Ich fange an, in meinem Umfeld darüber zu sprechen, wie begeistert ich von dir bin, sicher, dass ich der letzte Trottel bin, der dich nun endlich liest. Aber nein – und hier kommt die große Überraschung – die meisten sind so blöd wie ich. Alle kennen dein Schicksal, kaum einer kennt dich. Vielleicht liegt es an meinen Freunden, an der Generation, die dein Tagebuch unglücklicherweise auf dem Lehrplan hatten, den viele schon aus dem Prinzip Nicht-noch-ne-traurige-Judengeschichte heraus verweigern und weil’s doch schon so lang her ist.
Hier nun schwenke ich leidenschaftlich meine Fahne und sage HALT! Lest sie, bitte lest sie, sie ist so wunderbar, so erfrischend, ihr gedanklicher Freiheitsdrang, ihre Kraft so groß und herrlich und – witzig ist sie, dieses unbändige Mädchen, in Freiheit beliebt und bewundert, in der Enge des Verstecks nun kritisiert und auf sich allein gestellt, weil sie so anders ist. Angepasstheit – Fehlanzeige. Sie will sich behaupten, will Schriftstellerin, Journalistin werden, nach Paris gehen, sie hat Träume, die sie wahr machen will; dafür ruft sie sich ständig zur Ordnung um nicht einzuknicken in der Beschränktheit ihres Alltags im Versteck, dieses kleine Kraftwerk von Mensch. Ich lese langsam, damit die etwa 300 Seiten, übersetzt von der allerallerbesten Mirjam Pressler, nicht so schnell enden. Mirjam Pressler hat auch diese erweiterte Fassung mitgestaltet, ihr liebevoller Ton begleitet den freien Sprachfluss von Anne auf das Vollkommenste. Ganz von allein stellt sich im Lauf der Lektüre die Ungeheuerlichkeit ein, mit der diesem über alle Maßen zuversichtlichen Leben kaltblütige Vernichtung entgegengesetzt wird.
Anne. Mit 13 Jahren beginnst du, mit 15 enden deine Einträge aus bekannten Gründen, du wirst deportiert und stirbst ein gutes halbes Jahr später im KZ Bergen-Belsen an Typhus. Was können wir tun, jetzt noch? Dich lesen, weil du uns an das Leben schlechthin erinnerst. Du warst ehrlich, ich will es auch sein – bleib, wie du bist, denn so bist du ganz wunderbar, ich liebe dich. Danke, du Frechdachs.

Fischer TB, 315 Seiten
ISBN 978 3 596 152773
Kauft in eurer Buchhandlung um die Ecke, meine in Hamburg ist der KiBuLa.
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