Eishockey, Eva & Amsterdam 1944

LogBuch Samstag, 20. Februar 2016
Ich hatte mich verpflichtet, beim PlayOff-Spiel der HSV Regionalliga Nord die gegnerische Strafbank zu betreuen – Tür auf, Delinquent mit eindrucksvollem Trikot-Odeur rein – rumpel, rumms, fluch, setzen. Nach meist 2 Minuten den adrenalinsüchtigen Wildfang wieder plopp! (der Spieler) und rumms! (das war die Tür) aufs Eis in die Freiheit entlassen. Ich liebe Eishockey hautnah, muss allerdings dieses Thriller-Spiel nach dem 2. Drittel verlassen und ersetzt werden, denn ich muss los ins Abaton-Kino. Der Instinkt hat mich getrieben; eine Eva soundso liest aus einem Buch, Markus Lanz moderiert, dann gibt’s noch eine Doku, irgendwas mit Asyl, ach ja – No Asylum, Briefe von Otto Frank. WAS? Otto Frank, der Vater Anne Franks. Instinkt an Gehirn: Da will ich hin. Wie so oft stolpere einfach drauf zu, oft eine verdammt gute Idee….und stolpern kann ich gut. Sicherheitshalber hatte ich mir am Tag zuvor eine Karte reserviert, was nach Aussage der Telefon-Lady nicht nötig war, weil der Andrang derzeit nicht groß sei – unglaublich, wie desinteressiert die Menschen so sind, denke ich. Also locker Zeit, Parkplatz krieg ich immer. Als ich beim Kino ankomme, werde ich schmerzlich eines Besseren belehrt. Ich habe die Rechnung ohne 3nach9 gemacht, wo die Autorin am Vorabend zu Gast war. Menschentrauben drängen und wabern nun um und in den Eingang, der völlig verstopft ist, an einen Parkplatz ist nicht mehr zu denken. Kurz vor Veranstaltungsbeginn ziehe ich noch immer verzweifelt Kreise, meine Karte ist dabei zu verfallen, weil ich sie nicht rechtzeitig abholen kann. Gleich wird irgendeiner von den „massenhaft Desinteressierten“ meine Karte bekommen! Ich hole schon Luft um – was ich mir höchst selten gestatte – zu fluchen wie ein Müllkutscher, dann endlich – ja! – ein winziges Plätzchen, halblegal, für das kleine Auto. Schnell raus, Sprint zum Kino, bitte, lass‘ es nicht zu spät sein. Ich hechte vorbei an den Menschen, die am Abholschalter stehen und spreche einen Herren an, er möge doch bitte bitte meine Karte mit abholen, ja? Er zeigt auf seine Frau, sie sagt mit unverständlichem Nachdruck „ich bin seine Frau!“, ich bitte sie nochmals und verkneife mir die beruhigende Bemerkung, dass ich nur die Karte, nicht aber ihren Mann wolle. Ja, es ist noch da, mein Ticket  für eine Lesung mit Doku, Briefen von Otto Frank, Eva, ja was. IMG_1584
Befriedet lasse ich mich in einen der herrlich roten Sessel im Kinosaal fallen. Angekommen. Es geht los.
Sie heißt Eva Schloss, das werde ich nun nicht mehr vergessen. Sie spricht mit einem leichten von-allem-etwas-Akzent/Dialekt, ich höre ein wenig Wien, Holland, ein bisschen auch London vielleicht, wo sie schon längst lebt, diese 86jährige Lady. Sie liest Passagen aus ihrem neuen Buch Amsterdam, 11. Mai 1944 (ich werd’s lesen und berichten!). Zwischen den einzelnen Passagen spricht sie über damals. Herr Lanz lässt sich nicht lumpen, er macht das versiert und ganz fein.
Ich sehe nur sie.
Da sitzt sie: Aufgeräumt, gut gelaunt, auch bewegt, so ehrlich, so klar, nimmt kein Blatt vor den Mund. Einfach eine süße Frau, ganz wunderbar, ich gewinne sie lieb, das geht ganz schnell. Kein Mitleid, sondern Mitgefühl im reinsten Sinn, das empfinde nicht nur ich. Neben mir ein Paar, das sich immer wieder Tränen aus den Augen wischt. Wie ich. Wie viele andere. Es sind „gute“ Tränen, weil wir fühlen und verstehen. Das macht diese kleine, zarte Frau da oben. Nachdem sie den letzten Abschnitt aus ihrem Buch gelesen hat, ist Ruhe im Saal. Stille. Als ich wieder denkfähig bin, ist die Fragerunde längst durch. Ich versäume auch das Kaufen des Buches, will sie lieber weiter ansehen, diese Brücke hin zu einem Verständnis über eine Katastrophe, zu der ich und die nachfolgenden Generationen kaum Zugang haben. Aber ich, wir, haben jetzt Eva. Im Geiste duze ich sie.

Nach kurzer Signierpause geht es sofort weiter mit der Dokumentation No Asylum der Regisseurin und Produzentin Paula Fouce über die vor wenigen Jahren entdeckten, schriftlichen Versuche Otto Franks, seine Familie 1940 in die U.S.A. außer Landes und in Sicherheit zu bringen – vergebens, wie wir wissen. Zeitzeugen kommen zu Wort, unter ihnen auch Eva Schloss, und schließen viele Lücken darüber, was vor und nach der Deportation mit den Familien Frank und Schloss geschehen ist. Zum ersten Mal sehe und höre ich Otto Frank. Rechts von mir, ein paar Sitze weiter, sitzt Eva Schloss. Bei einigen Szenen verdeckt sie die Augen. Das kennt sie und muss es nicht mehr sehen.
Sie war da, in Amsterdam, nach dem Verrat im KZ Auschwitz-Birkenau, sie hat überlebt. Jeder, der das überlebt hat, wird mir wieder einmal klar, hat ein Wunder erlebt. Der Film lässt uns zurück mit der Frage, welche Lösung es gibt für die Gewissheit, dass so ein perfider Massenmord, auch unsinnige Ablehnung von Asylbegehren, schlicht Unmenschliches in jeder Art verhindert werden kann.
Ehrlich, die Antwort ist einfach: Verstehen wollen.
Wenn ich verstehen will, komme ich der Gewissheit ziemlich nahe, das ist der einzige Weg. Wenn ich verstehen will, interessieren mich auch die entsprechenden Filme, Bücher (ich werde berichten!), die nicht den Zeigefinger heben, sondern mit mir sprechen, mich an Zusammenhänge heranführen, zu einem Wissen, dass ich nicht habe, und die genau dies auch wissen und mich an die Hand nehmen. Denn ist der Schüler bereit, erscheint der Meister…
Obwohl die Veranstaltung nun wirklich vorbei ist, drücke ich mich noch ein wenig herum. Dann gibt es für mich noch einen kleinen, kostbaren Moment. Ich frage Eva Schloss, wo sie sich nach all den Jahren beheimatet fühlt. Pause. Dann antwortet sie mir. „Ich fühle mich eigentlich nirgendwo zuhause.“ Ja, das kann ich verstehen.
Ich nehme ihre Hand, will sie drücken, doch dann – dann küsse ich sie. Und Eva, Eva lacht.
Stay tuned, und:
Schaut, wo Ihr den Film zufassen bekommt, ich glaube fast, er hat keinen Verleih, sonst kann man bestimmt die DVD kaufen, das lohnt sich.
P.S.: Oh, ich erfahre grad, hat doch einen Verleih – Roco Film.
No Asylum Poster LAYERS 27x40

 

 

 

 

 

 

 

Ich glotz TV: „Der Fall Barschel“

FAZ, Die Zeit, STERN, Süddeutsche – die Großen haben längst alles gesagt, gefragt und geantwortet zum Thema dieses 3-stündigen Monumental-Fernsehfilms. VOR der Ausstrahlung gestern Abend zur ARD Primetime.
Und all diese Artikel habe ich auch gelesen. Allerdings erst letzte Nacht…

Längst ohne Fernseher, speichere ich Seiten mit für mich relevantem Inhalt auf FaceBook, so auch die Seite von Schauspieler Alexander Fehling. Sein Post über ein Interview zur Produktion „Der Fall Barschel“, indem er die Hauptrolle spielt, ließ mich aufhorchen und mir war klar – ich muss fernsehen. An einem Samstag Abend!! Hätte nicht gedacht, dass mir das nochmal passiert.
Im ARD Live-Stream mit Kopfhörern auf meinem iPad; 3 Stunden, keine Werbung.
Und dann war ich weg. Total. Parallel-Universum. Was ist passiert?
Ich habe das absolut Beste gesehen, was mir die Öffis je geboten haben.
Und weil ich so überwältigt, so aufgewühlt war und nicht schlafen und niemanden anrufen konnte – nicht wegen Fernsehen, mir gings ja gut! – habe ich also fiebrig das Netz durchpflügt nach mehr, mehr, mehr über dieses brisante Filmepos; mein leidenschaftlicher Geist brauchte einen Hafen für den losen Anker, der er nun war. Ich war erschüttert.

Regisseur Kilian Riedhof hat mit Marco Wiersch ein so dichtes und kluges Skript geschrieben, das es schafft, den Strudel der Ereignisse, in den Uwe Barschel geraten zu sein sehr deutlich scheint, auf die Hauptfigur David Burger zu übersetzen, wodurch mir die ganze emotionale Bandbreite des Falls durch das Erleben von Alexander – äh, dem fiktiven Jouralisten David Burger (Mist, wenn Schauspieler zu gut sind) so klar wurde, dass ich als ein einziges Verstehen zurückbleibe. Wusste nicht, dass ich so etwas fühlen kann. Jetzt schon.
Was für ein Regisseur (wundert mich nicht, dass er auch HOMEVIDEO gemacht hat), der wirklich alle Schauspieler auf eine Weise führen kann, dass sie so vollkommen aufeinander reagieren. Edgar Selge als Chefredakteur hat mich fast zum Weinen gebracht. Ich war dabei, konnte die Qual von David Burger (AF) physisch spüren. Die Niedertracht des Umfelds, die Gnadenlosigkeit, die langsam um ihn herum immer weiter sich anschleichende Angst, dem nicht mehr gewachsen zu sein, war MEINE Angst.

Alexander Fehling mit seiner knackig-klaren Sprache, die schon allein rattenfängerisch wirkt, tritt in keine einzige Falle einer solch großen Rolle, und Fallen gibt es viele, denn er ist ja wirklich ein richtig schöner Mann und das kann schwer werden, wenn der Regisseur diese Karte spielt. Aber er darf klar bleiben, ist ehrlich in wirklich jeder Gefühlslage, ich glaube ihm alles. Ich hätte es wissen müssen nach „Wir wollten aufs Meer“, „Wer wenn nicht wir“ oder „Goethe!“ – he’s a decent genius…
Und die Produzentin Ariane Krampe, ja die könnte ich glatt küssen- virtuos, die ganze Produktion.
Egal, was Ihr am Samstag, den 13.02.2016 um 20:15 Uhr vorhabt – absagen:
Im ARD EinsFestival kommt er noch einmal, „Der Fall Barschel“.
Stay tuned, Eure Karime
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