LogBuch Samstag, 20. Februar 2016
Ich hatte mich verpflichtet, beim PlayOff-Spiel der HSV Regionalliga Nord die gegnerische Strafbank zu betreuen – Tür auf, Delinquent mit eindrucksvollem Trikot-Odeur rein – rumpel, rumms, fluch, setzen. Nach meist 2 Minuten den adrenalinsüchtigen Wildfang wieder plopp! (der Spieler) und rumms! (das war die Tür) aufs Eis in die Freiheit entlassen. Ich liebe Eishockey hautnah, muss allerdings dieses Thriller-Spiel nach dem 2. Drittel verlassen und ersetzt werden, denn ich muss los ins Abaton-Kino. Der Instinkt hat mich getrieben; eine Eva soundso liest aus einem Buch, Markus Lanz moderiert, dann gibt’s noch eine Doku, irgendwas mit Asyl, ach ja – No Asylum, Briefe von Otto Frank. WAS? Otto Frank, der Vater Anne Franks. Instinkt an Gehirn: Da will ich hin. Wie so oft stolpere einfach drauf zu, oft eine verdammt gute Idee….und stolpern kann ich gut. Sicherheitshalber hatte ich mir am Tag zuvor eine Karte reserviert, was nach Aussage der Telefon-Lady nicht nötig war, weil der Andrang derzeit nicht groß sei – unglaublich, wie desinteressiert die Menschen so sind, denke ich. Also locker Zeit, Parkplatz krieg ich immer. Als ich beim Kino ankomme, werde ich schmerzlich eines Besseren belehrt. Ich habe die Rechnung ohne 3nach9 gemacht, wo die Autorin am Vorabend zu Gast war. Menschentrauben drängen und wabern nun um und in den Eingang, der völlig verstopft ist, an einen Parkplatz ist nicht mehr zu denken. Kurz vor Veranstaltungsbeginn ziehe ich noch immer verzweifelt Kreise, meine Karte ist dabei zu verfallen, weil ich sie nicht rechtzeitig abholen kann. Gleich wird irgendeiner von den „massenhaft Desinteressierten“ meine Karte bekommen! Ich hole schon Luft um – was ich mir höchst selten gestatte – zu fluchen wie ein Müllkutscher, dann endlich – ja! – ein winziges Plätzchen, halblegal, für das kleine Auto. Schnell raus, Sprint zum Kino, bitte, lass‘ es nicht zu spät sein. Ich hechte vorbei an den Menschen, die am Abholschalter stehen und spreche einen Herren an, er möge doch bitte bitte meine Karte mit abholen, ja? Er zeigt auf seine Frau, sie sagt mit unverständlichem Nachdruck „ich bin seine Frau!“, ich bitte sie nochmals und verkneife mir die beruhigende Bemerkung, dass ich nur die Karte, nicht aber ihren Mann wolle. Ja, es ist noch da, mein Ticket für eine Lesung mit Doku, Briefen von Otto Frank, Eva, ja was.
Befriedet lasse ich mich in einen der herrlich roten Sessel im Kinosaal fallen. Angekommen. Es geht los.
Sie heißt Eva Schloss, das werde ich nun nicht mehr vergessen. Sie spricht mit einem leichten von-allem-etwas-Akzent/Dialekt, ich höre ein wenig Wien, Holland, ein bisschen auch London vielleicht, wo sie schon längst lebt, diese 86jährige Lady. Sie liest Passagen aus ihrem neuen Buch Amsterdam, 11. Mai 1944 (ich werd’s lesen und berichten!). Zwischen den einzelnen Passagen spricht sie über damals. Herr Lanz lässt sich nicht lumpen, er macht das versiert und ganz fein.
Ich sehe nur sie.
Da sitzt sie: Aufgeräumt, gut gelaunt, auch bewegt, so ehrlich, so klar, nimmt kein Blatt vor den Mund. Einfach eine süße Frau, ganz wunderbar, ich gewinne sie lieb, das geht ganz schnell. Kein Mitleid, sondern Mitgefühl im reinsten Sinn, das empfinde nicht nur ich. Neben mir ein Paar, das sich immer wieder Tränen aus den Augen wischt. Wie ich. Wie viele andere. Es sind „gute“ Tränen, weil wir fühlen und verstehen. Das macht diese kleine, zarte Frau da oben. Nachdem sie den letzten Abschnitt aus ihrem Buch gelesen hat, ist Ruhe im Saal. Stille. Als ich wieder denkfähig bin, ist die Fragerunde längst durch. Ich versäume auch das Kaufen des Buches, will sie lieber weiter ansehen, diese Brücke hin zu einem Verständnis über eine Katastrophe, zu der ich und die nachfolgenden Generationen kaum Zugang haben. Aber ich, wir, haben jetzt Eva. Im Geiste duze ich sie.
Nach kurzer Signierpause geht es sofort weiter mit der Dokumentation No Asylum der Regisseurin und Produzentin Paula Fouce über die vor wenigen Jahren entdeckten, schriftlichen Versuche Otto Franks, seine Familie 1940 in die U.S.A. außer Landes und in Sicherheit zu bringen – vergebens, wie wir wissen. Zeitzeugen kommen zu Wort, unter ihnen auch Eva Schloss, und schließen viele Lücken darüber, was vor und nach der Deportation mit den Familien Frank und Schloss geschehen ist. Zum ersten Mal sehe und höre ich Otto Frank. Rechts von mir, ein paar Sitze weiter, sitzt Eva Schloss. Bei einigen Szenen verdeckt sie die Augen. Das kennt sie und muss es nicht mehr sehen.
Sie war da, in Amsterdam, nach dem Verrat im KZ Auschwitz-Birkenau, sie hat überlebt. Jeder, der das überlebt hat, wird mir wieder einmal klar, hat ein Wunder erlebt. Der Film lässt uns zurück mit der Frage, welche Lösung es gibt für die Gewissheit, dass so ein perfider Massenmord, auch unsinnige Ablehnung von Asylbegehren, schlicht Unmenschliches in jeder Art verhindert werden kann.
Ehrlich, die Antwort ist einfach: Verstehen wollen.
Wenn ich verstehen will, komme ich der Gewissheit ziemlich nahe, das ist der einzige Weg. Wenn ich verstehen will, interessieren mich auch die entsprechenden Filme, Bücher (ich werde berichten!), die nicht den Zeigefinger heben, sondern mit mir sprechen, mich an Zusammenhänge heranführen, zu einem Wissen, dass ich nicht habe, und die genau dies auch wissen und mich an die Hand nehmen. Denn ist der Schüler bereit, erscheint der Meister…
Obwohl die Veranstaltung nun wirklich vorbei ist, drücke ich mich noch ein wenig herum. Dann gibt es für mich noch einen kleinen, kostbaren Moment. Ich frage Eva Schloss, wo sie sich nach all den Jahren beheimatet fühlt. Pause. Dann antwortet sie mir. „Ich fühle mich eigentlich nirgendwo zuhause.“ Ja, das kann ich verstehen.
Ich nehme ihre Hand, will sie drücken, doch dann – dann küsse ich sie. Und Eva, Eva lacht.
Stay tuned, und:
Schaut, wo Ihr den Film zufassen bekommt, ich glaube fast, er hat keinen Verleih, sonst kann man bestimmt die DVD kaufen, das lohnt sich.
P.S.: Oh, ich erfahre grad, hat doch einen Verleih – Roco Film.