Am Ernst Deutsch Theater an der Mundsburg vorbei, scharf rechts um die Ecke, runter vom Fahrrad, Zahlencode eintippen, ab durch den Bühneneingang und hinein ins Paralleluniversum. Seit der Premiere am 29. September an fast jedem Tag spielen wir hier am größten Privattheater Deutschlands dreißigmal Nathan der Weise von Gotthold Ephraim Lessing, das ewige Stück um die hoffentlich eines Tages gelöste Frage, welche Religion die wahre sei; dann ist Schluss und die nächste Produktion dran, wir spielen also ensuite. Anders als am Staatstheater, das ein Repertoire von über dreißig Stücken im Spielplan beherbergt, mit all den dazugehörigen Bühnenbildern, die gelagert werden müssen, den Schauspielern, die bereitstehen. Ensuite heißt, der Lappen (Vorhang) geht jeden Abend hoch, manchmal zweimal am Tag. Ist die Premiere einmal raus, geht es darum, jede Vorstellung frisch aus sich zu holen, egal wie man sich fühlt, was der Tag gebracht hat und wenn nur einer seinen Part herunterleiert, ist leicht der ganze Abend im Eimer. Erkältung, Knieschmerzen, Finger verstaucht, das wird da unten keiner merken, das merken nur die Kollegen hinter der Bühne, darum kümmert sich Sonja, das wird schon. Theater ist ein Wunderland, das kann man immer wieder neu erleben. Ist die Premiere gelungen – und man sagt, sie sei es – verhält es sich nun wie in der Demokratie, um deren Ausgewogenheit und Stabilität man sich immer wieder neu bemühen muss.
Mit einem lauten Hallo! eine Treppe tiefer Richtung Bühnentechnik hechte ich mit einem Gruß ins Konver (Konversationszimmer, hier hält man sich zwischendurch auf und qualmt gegebenenfalls, die anderen qualmen mit) oder gleich daran vorbei in die Garderobe, rein ins Kostüm, danke Sonja oder Miri und ab in den ersten Stock, denn ich bin die erste in der Maske. Gesine und Sarah oder Nora sitzen ein Zimmer weiter und erinnern mich an Dornröschen. Anmutig und geduldig knüpfen sie noch an den Perücken für die kommenden Produktionen Bunbury und das Weihnachtsmärchen Hänsel und Gretel, sie erwarten mich bereits. Ich setze mich, Zeit zu entspannen, denn Gesine braucht gut und gern 45 Minuten, um aus mir die Schwester eines Sultans zu frisieren und zu malen. „Augen bitte schließen“ heißt die Losung und ich ergebe mich blind in den Haufen Haarnadeln, Sprühkleber, Lidschatten und Puder, da kann man schon mal wegnicken. Langsam trudeln alle ein: aus Jessica (Kosmalla) wird Daja, aus Wolf (Dietrich Sprenger) der weise Nathan, Günter (Schaupp) wird ein Derwisch, mein Bühnenbruder Mohammad-Ali (Behboudi) muss noch auf die sultanische Metamorphose warten, bin noch nicht fertig. Ich höre den Tempelherren – noch ist er Jonas (Minthe) und hat Mainz 05 im Kopf – die Treppen hochstiefeln, als sweet seventeen Paula (Bierend) sich zur Recha flechten lässt. Pascal (Pawlowski) zeigt uns schnell noch ein Video seiner kleinen Tochter, das uns bezaubert, bevor er zum Klosterbruder mutiert. „Guten Abend an alle, noch eine halbe Stunde bis zur Vorstellung, dies ist das erste Zeichen“, raunt Inspizient Ralf durch alle Lautsprecher im Haus. Endlich bin auch ich fertig, auf dem Weg zur Bühne treffe ich den Patriarchen – Quatsch Hartmut (Schorries) – und Souffleuse Anna. Schöne Vorstellung, ja danke, dir auch, viel Spaß, eine Umarmung manchmal oder ein Streichen über den Arm und ab in die Ecke hinter der Bühne, wo der Sultan bereits auf mich wartet. Der Eiserne (Vorhang) ist unten, Nathan sitzt konzentriert auf seinem Koffer, Daja steht ihm zugewandt, ein Nebelstoß aus der Maschine, die Musik setzt ein, der Eiserne hebt sich und los. Ich höre zu, auch nach 15 Vorstellungen noch, entdecke Neues und noch weiter Ausgefeiltes, Szene für Szene rollt dieser Zug mit Kraft durch eine Zeit, die keine ist. Die Wege hinter der Bühne haben einen eigenen Rhythmus gebildet und wenn der Derwisch an mir vorbei die Bühnenseite wechselt, Daja auf die Bühne rauscht und wieder herunterweht, sich bereitmacht, stehe ich automatisch auf. Rechts sammelt sich Nathan für die nächste Szene. Lessing ist kein Pappenstiel, Hochleistung für die iranische Zunge von Mohammad-Ali Behboudi oder die blutjunge von Paula, die mit jeder Vorstellung so deutlich in ihrer Rolle wächst, dass es eine Freude ist. Ich habe meine Lieblingsstellen und versuche so viel wie möglich aus der Seitengasse zu sehen. So verpasse ich beispielsweise nie, wenn Tempelherr und Recha sich verlieben oder der Patriarch Nathan auf den Scheiterhaufen wünscht. Ein besonderer Satz vom Klosterbruder kann mich genauso begeistern wie die ganze Ringparabel, ich genieße die Not in Dajas Stimme genauso wie den Schlagabtausch mit dem Derwisch, dem alles Materialistische sowieso schwer auf den Keks geht und ja – ich liebe Lessing. Er ist kein Superstar wie Goethe oder Schiller, doch gäbe es beide so nicht ohne ihn, den Vorgänger, der sich nie seine Meinung hat beugen lassen und ein unbequemer, knallharter Denker war. Hochachtung und Dankbarkeit hat man ihm nicht verwehrt (hab’ ich von Reich-Ranicki geklaut), doch wird es Zeit, ihn zu lieben wie die Räuber von Schiller oder den Werther. „Ach, du liebe Zeit, Nathan, wie langweilig!“ „Oh, nee, das hatten wir auch in der Schule, da schläft man ja ein.“ „In diesen 4-Stunden-Klopper geh’ ich bestimmt nicht.“ Nein, er ist ganz wunderbar, der Nathan. Dieser Nathan. Und bestimmt keiner schläft ein in den zwei Stunden, die dieser Nathan dauert, der lebendig, klar, frech, knackig und mir reine Freude ist.
Heute ist Bergfest.
Noch einmal so viele Vorstellungen, bis zum 30. Oktober, dann ist Feierabend. Noch viele Male also, in denen ich meinen Kollegen lausche und zusehe, bis ich selbst raus muss. Noch 15 Mal Nathan, anschließend ab ins Schütter’s eins oder zwei, wie kann es anders sein.
Ich freu‘ mich auf Euch, stay tuned,
eure Karime.