Ich scheue sie wie der Teufel das Weihwasser – Klassentreffen.
Schon das Wort bereitet mir Unbehagen, ich will diesen Begriff, dies negativ behaftete Unwort so schnell wie möglich vergessen, auf ewig aus meinem Vokabular streichen. Warum? Weil ich ein Weichei bin. Und so schwänze ich diese Ansammlung von Menschen, die in ihres Lebens Vorzeit oder noch vor Kurzem zwangsweise ihre Vormittage gemeinsam verbrachten. Haus, Auto, Boot, Frau und Nachwuchs werden vor staunenden Ehemaligen hingeblättert, während scheinbar weniger Gesegnete, die hier ihre zarte Hoffnung auf einen Rest Freundschaft setzen, auf der Veranstaltung den Todesstoß erleiden müssen und von so viel Erfolg geschlagen nur noch nach Hause schleichen können.
Ich habe das mit meiner ehemaligen Grundschulklasse erlebt, lang ist’s her. Einige Schüler hatten in scheinbar jedem Bereich des Lebens einen deutlich schlechteren Start als die verwöhnten Gören, zu denen auch ich zählte. Als ich aufs Gymnasium wechselte, verließ ich sie in der Hoffnung auf eine gnädige Welt, die für sie ein Wunder geschehen ließe und – vergaß sie, ganz bequem und arrogant.
Das böse Erwachen kam Jahre später auf einem – na, ihr wisst schon, Dingsda-Fest. Kein Wunder, sondern nur das Normale war passiert. Die gepamperten Tennis- und Hockeyclub-Schätzchen hatten sich durchgesetzt, der Rest war zum Heulen. Genau das habe ich dann zu Haus auch getan. Weichei, sag ich ja. Danach – nie wieder.
10 Jahre nach diesem denkwürdigen Ereignis überwand ich mich zu einer Ausnahme – Stufentreffen der Gymnasiasten. Es lief gut an, bis ich einem der damals coolsten und schlauesten Typen in die Arme lief. Ich erinnerte seine smarte, lange Matte, das verschmitzte Lächeln. Ich habe ihn sofort erkannt, äußerlich kaum verändert. Er lächelte mich an. Dann wollte ich nur noch weg.
Meine kühne Vorstellung von dem supercleveren Leben eines sexy Genies, das er zweifelfrei leben würde, brach zusammen wie ein lächerliches Kartenhaus. Kein Licht in seinen ehemals blitzenden Augen mehr, kein Mut, irgendwie festgeklebt wirkte er, aber froh mich zu sehen. Ich hoffe, er hat sie nicht bemerkt, meine grenzenlose Enttäuschung, zu der ich, wie ich heute weiß, absolut kein Recht hatte. All die netten Gespräche, freudvollen Wiedersehen – alles weg. Erschüttert zu Hause angekommen, schwor ich derartigen Zusammenkünften endgültig ab.
Und dabei wäre es geblieben.
Wenn Marion mich nicht dreimal im von mir oft besuchten Ernst-Deutsch-Theater erwischt, bearbeitet und mir das Versprechen abgerungen hätte zu kommen. 10 Jahre reifer war ich nun, hatte viel hinter mich gebracht, erledigt, gelöst. Plötzlich wusste ich, das ist jetzt dran. Auch war mir klar, was wirklich mein Problem war: andere hatten nicht meinen Erwartungen entsprochen und die Welt war einfach nicht so, wie ich sie haben wollte: gerecht.
Und? Vor Kurzem war ich auf einem – Klassentreffen.
Ich hatte wunderbare Gespräche, schau‘ mal einer an. Befreit von verkrampften Glücksprognosen für andere habe ich getanzt, getanzt mit Menschen, die ich schon lange kenne, die einen mehr, andere weniger. Ich konnte sehen, dass ich nicht darüber zu urteilen hatte, ob ein Leben gelungen ist oder nicht. So habe ich mich an meinen ehemaligen Klassenkameraden von Herzen erfreut und ihnen zugehört, die ganz anders großartig waren, als ich dachte. Die Häuser, Autos oder Boote waren allen egal, wir haben uns genossen, heute. So, wie wir waren, sind und sein werden, jeder auf seine Art, mit und ohne Pampers.
Und ich? Bin kein Weichei mehr (fast, glaube ich).
Die Welt? Ist noch immer nicht gerecht, aber wir können es sein.
Marion Elskis, ich danke dir.