Anne Frank – das Tagebuch

Solange ich denken kann, ist es berühmt, das Tagebuch der Anne Frank. Nur ich hatte es noch nicht gelesen. Mit dem Strom schwimmen, Sonntag Nachmittag spazieren gehen, abends dann Tatort – nein, nicht meine Sache. In diese Schublade hatte ich die Aufzeichnungen des jüdischen Mädchens gesteckt, Abteilung: Hat ja jeder gelesen, also nicht interessant.
Bis jetzt.
Wäre da nicht die bevorstehende deutsche Erstaufführung des Stücks ANNE von Leon de Winter und Jessica Durlacher am Ernst-Deutsch-Theater in Hamburg.
Nun wollte ich es also wissen, wollte sehen, ob etwas dran ist am nun schon 70jährigen Mythos Anne Frank und auch was.
Und nun?
Vergib’ mir, du prachtvolles Mädchen. Ja, Abbitte auf der ganzen Linie. Ja, es ist wahr, du bist etwas Besonderes. Ich kenne dich, ich sehe dich, du hast Kitty, deinem Tagebuch, deiner Freundin aus Papier und damit auch mir, alles von dir gezeigt. Denn, wie du ja schreibst, kannst du im Schreiben alles ausdrücken, was dir in gesprochenen Worten oft schwerfällt. Und wie du das kannst! Schon nach wenigen Seiten muss ich dich gern haben, du freches, temperamentvolles Mädchen, heiter und mit Riesenklappe, die du nur schlecht halten kannst, wofür du immer wieder aufs Dach kriegst. Ich fange an, in meinem Umfeld darüber zu sprechen, wie begeistert ich von dir bin, sicher, dass ich der letzte Trottel bin, der dich nun endlich liest. Aber nein – und hier kommt die große Überraschung – die meisten sind so blöd wie ich. Alle kennen dein Schicksal, kaum einer kennt dich. Vielleicht liegt es an meinen Freunden, an der Generation, die dein Tagebuch unglücklicherweise auf dem Lehrplan hatten, den viele schon aus dem Prinzip Nicht-noch-ne-traurige-Judengeschichte heraus verweigern und weil’s doch schon so lang her ist.
Hier nun schwenke ich leidenschaftlich meine Fahne und sage HALT! Lest sie, bitte lest sie, sie ist so wunderbar, so erfrischend, ihr gedanklicher Freiheitsdrang, ihre Kraft so groß und herrlich und – witzig ist sie, dieses unbändige Mädchen, in Freiheit beliebt und bewundert, in der Enge des Verstecks nun kritisiert und auf sich allein gestellt, weil sie so anders ist. Angepasstheit – Fehlanzeige. Sie will sich behaupten, will Schriftstellerin, Journalistin werden, nach Paris gehen, sie hat Träume, die sie wahr machen will; dafür ruft sie sich ständig zur Ordnung um nicht einzuknicken in der Beschränktheit ihres Alltags im Versteck, dieses kleine Kraftwerk von Mensch. Ich lese langsam, damit die etwa 300 Seiten, übersetzt von der allerallerbesten Mirjam Pressler, nicht so schnell enden. Mirjam Pressler hat auch diese erweiterte Fassung mitgestaltet, ihr liebevoller Ton begleitet den freien Sprachfluss von Anne auf das Vollkommenste. Ganz von allein stellt sich im Lauf der Lektüre die Ungeheuerlichkeit ein, mit der diesem über alle Maßen zuversichtlichen Leben kaltblütige Vernichtung entgegengesetzt wird.
Anne. Mit 13 Jahren beginnst du, mit 15 enden deine Einträge aus bekannten Gründen, du wirst deportiert und stirbst ein gutes halbes Jahr später im KZ Bergen-Belsen an Typhus. Was können wir tun, jetzt noch? Dich lesen, weil du uns an das Leben schlechthin erinnerst. Du warst ehrlich, ich will es auch sein – bleib, wie du bist, denn so bist du ganz wunderbar, ich liebe dich. Danke, du Frechdachs.

Fischer TB, 315 Seiten
ISBN 978 3 596 152773
Kauft in eurer Buchhandlung um die Ecke, meine in Hamburg ist der KiBuLa.
Anne_Frank_Buch

Ein Gedanke zu “Anne Frank – das Tagebuch

  1. Das ist mal wieder ein fabelhafter,bewegender Beitrag von Dir.
    Ich werde mir die Premiere im EDT am Donnerstag ansehen.
    Danke,liebe Karime
    Elisabeth v. C.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Du kannst folgende HTML-Tags benutzen: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>