Ich werde nicht hassen

5. Dezember, 2. Advent, Sonntag, klar. Hamburger Kammerspiele, 20:30 Uhr.
Ich habe es geahnt. Ich gehe oft ins Theater, weil es für mich einer der schönsten Orte ist, wo ich mich aufhalten kann. Ich gehe instinktiv und versuche nichts zu erwarten, dann werde ich immer wieder überrascht. Früher habe ich versucht, mir schon vorher etwas vorzustellen, was mir am Ende meist zwei Möglichkeiten beschied: Entweder war ich froh oder enttäuscht. Seit Jahren mache ich es nun anders und habe andere Möglichkeiten: Ich habe anschließend Fragen und konstruktive Kritik oder bin einfach glücklich, selig, inspiriert. Und nun dies hier. Ja, ich habe es geahnt – geahnt, dass es hier anders sein wird.
Ich kenne Mohammad-Ali Behboudi erst seit kurzer Zeit, wir waren Geschwister auf der Bühne Im NATHAN am EDT. Nun wollte ich meinen „Bruder“ in der Bühnenadaption des Buches von Izzeldin Abuelaish Du sollst nicht hassen spielen sehen. Aber – das hat er scheinbar gar nicht getan; spielen, meine ich.
Die wesentlichen Punkte der schicksalshaften Geschichte des palästinensischen Arztes ist schnell erzählt: Im Januar 2009 wurden in das Schlafzimmer seiner Töchter israelische Panzergranaten gefeuert, sie und ihre Cousine waren sofort tot, er war dabei. Direkt im Anschluss gibt er ein Telefoninterview, kommuniziert seitdem ohne Unterlass die Notwendigkeit des Friedens zwischen den beiden Völkern, schreibt 2011 dieses Buch. 2014 bringt das THEATERHAUS Stuttgart den Monolog Ich werde nicht hassen unter der Regie von Ernst Konarek auf die Bühne. Seitdem tourt der iranisch-stämmige Schauspieler, der seit über 30 Jahren auf deutschsprachigen Bühnen unterwegs ist, mit diesem Goldstück für den Frieden.
Ich sitze hier also mit meiner Familie in der 5. Reihe der Kammerspiele und bin wieder einmal überrascht. 90 Minuten lang. Ich sehe einen Menschen, einen Mann, der mir erzählt, wie er aufgewachsen ist, der etwas machen wollte aus seinem Leben. Ich sehe vor allen Dingen, was das bedeutet, so ein Leben in Palästina, wie man sich durch den Alltag kämpft, kämpfen muss, wenn man nicht abschmieren will mit seiner Familie. Ich erfahre von Traditionen, kleinen Geschichten, die mich schmunzeln lassen, ich sehe Izzeldin tanzen, beobachte seine sympathische Scheu, wenn er uns erzählt, was ihn bewegt, ich sehe ihn weinen und dann schnell weitererzählen, nur nicht hängen bleiben am Schmerz, immer weiter, nur immer weiter. Die Bühne von Dobmaier/Hochreiter ist pur, kein Krümel zuviel und der Doktor findet sich bestens selbst zurecht; faltet er den Tuch-Haufen auseinander, ist man zu Haus bei seiner Familie. Der Mann dort oben redet mit mir, mit uns, er spricht heiter und schnell. Wir verstehen ihn, der fast verzweifelt, wenn er nicht zu seiner sterbenden Frau kann, nur weil die Grenze wieder einmal gaza-streifen-dicht ist und er warten muss, stundenlang. Das alles erzählt mir dieser Fruchtbarkeitsdoktor, der zufällig Palästinenser ist und in einem israelischen Krankenhaus arbeitet. Er tut sich nicht leid, er beklagt sich nicht, er spricht zu mir. Kaum einer hustet im Saal, selten im Theater, wie wir wissen, denn es ist so leicht ihm zuzuhören und ich will das alles wissen. Dann kommt die Stelle, die ich gefürchtet habe: die Panzergranaten. Schlicht, zügig und klar schildert er detailliert was genau die Granaten an seinen Kindern getan haben, nicht nur ich halte den Atem an und traue meinen Ohren nicht. Kann man das überleben? Als Mensch? Als Vater? Als Augenzeuge? Da bricht er fast ab, der Izzeldin, schnappt sich einen Stuhl, setzt sich gradezu frisch an den Bühnenrand – ach ja, ich bin ja im Theater – und bittet uns inständig, miteinander zu sprechen. Weil es sonst nie aufhört. ja, ich habe verstanden, begriffen, geschnallt, Dr. Abuelaish. Und Schluss.
Ich habe am 2. Advent eine Reise gemacht, die mich tief berührt hat.
Merkwürdig, aber ich bin stolz auf meinen Bruder, der weder mit mir verwandt ist, noch Medizin studiert hat.
Was soll ich sagen? Geht rein, sage ich.
Noch einmal, am 4. Advent hier in den Hamburger Kammerspielen, das ist der 18. Dezember, könnt auch ihr euch erzählen lassen und ganz gefahrlos in den Gaza-Streifen reisen. Wenn ihr wollt. Wir sehen uns dort. Ich brauch‘ das. Und – ich werde nicht hassen.
Ich wünsche Euch einen schönen 3. Advent.
Keep you posted,
Eure Karime.

NATHAN ensuite und Theater inside.

Am Ernst Deutsch Theater an der Mundsburg vorbei, scharf rechts um die Ecke, runter vom Fahrrad, Zahlencode eintippen, ab durch den Bühneneingang und hinein ins Paralleluniversum. Seit der Premiere am 29. September an fast jedem Tag spielen wir hier am größten Privattheater Deutschlands dreißigmal Nathan der Weise von Gotthold Ephraim Lessing, das ewige Stück um die hoffentlich eines Tages gelöste Frage, welche Religion die wahre sei; dann ist Schluss und die nächste Produktion dran, wir spielen also ensuite. Anders als am Staatstheater, das ein Repertoire von über dreißig Stücken im Spielplan beherbergt, mit all den dazugehörigen Bühnenbildern, die gelagert werden müssen, den Schauspielern, die bereitstehen. Ensuite heißt, der Lappen (Vorhang) geht jeden Abend hoch, manchmal zweimal am Tag. Ist die Premiere einmal raus, geht es darum, jede Vorstellung frisch aus sich zu holen, egal wie man sich fühlt, was der Tag gebracht hat und wenn nur einer seinen Part herunterleiert, ist leicht der ganze Abend im Eimer. Erkältung, Knieschmerzen, Finger verstaucht, das wird da unten keiner merken, das merken nur die Kollegen hinter der Bühne, darum kümmert sich Sonja, das wird schon. Theater ist ein Wunderland, das kann man immer wieder neu erleben. Ist die Premiere gelungen – und man sagt, sie sei es – verhält es sich nun wie in der Demokratie, um deren Ausgewogenheit und Stabilität man sich immer wieder neu bemühen muss.

Mit einem lauten Hallo! eine Treppe tiefer Richtung Bühnentechnik hechte ich mit einem Gruß ins Konver (Konversationszimmer, hier hält man sich zwischendurch auf und qualmt gegebenenfalls, die anderen qualmen mit) oder gleich daran vorbei in die Garderobe, rein ins Kostüm, danke Sonja oder Miri und ab in den ersten Stock, denn ich bin die erste in der Maske. Gesine und Sarah oder Nora sitzen ein Zimmer weiter und erinnern mich an Dornröschen. Anmutig und geduldig knüpfen sie noch an den Perücken für die kommenden Produktionen Bunbury und das Weihnachtsmärchen Hänsel und Gretel, sie erwarten mich bereits. Ich setze mich, Zeit zu entspannen, denn Gesine braucht gut und gern 45 Minuten, um aus mir die Schwester eines Sultans zu frisieren und zu malen. „Augen bitte schließen“ heißt die Losung und ich ergebe mich blind in den Haufen Haarnadeln, Sprühkleber, Lidschatten und Puder, da kann man schon mal wegnicken. Langsam trudeln alle ein: aus Jessica (Kosmalla) wird Daja, aus Wolf (Dietrich Sprenger) der weise Nathan, Günter (Schaupp) wird ein Derwisch, mein Bühnenbruder Mohammad-Ali (Behboudi) muss noch auf die sultanische Metamorphose warten, bin noch nicht fertig. Ich höre den Tempelherren – noch ist er Jonas (Minthe) und hat Mainz 05 im Kopf – die Treppen hochstiefeln, als sweet seventeen Paula (Bierend) sich zur Recha flechten lässt. Pascal (Pawlowski) zeigt uns schnell noch ein Video seiner kleinen Tochter, das uns bezaubert, bevor er zum Klosterbruder mutiert. „Guten Abend an alle, noch eine halbe Stunde bis zur Vorstellung, dies ist das erste Zeichen“, raunt Inspizient Ralf durch alle Lautsprecher im Haus. Endlich bin auch ich fertig, auf dem Weg zur Bühne treffe ich den Patriarchen – Quatsch Hartmut (Schorries) – und Souffleuse Anna. Schöne Vorstellung, ja danke, dir auch, viel Spaß, eine Umarmung manchmal oder ein Streichen über den Arm und ab in die Ecke hinter der Bühne, wo der Sultan bereits auf mich wartet. Der Eiserne (Vorhang) ist unten, Nathan sitzt konzentriert auf seinem Koffer, Daja steht ihm zugewandt, ein Nebelstoß aus der Maschine, die Musik setzt ein, der Eiserne hebt sich und los. Ich höre zu, auch nach 15 Vorstellungen noch, entdecke Neues und noch weiter Ausgefeiltes, Szene für Szene rollt dieser Zug mit Kraft durch eine Zeit, die keine ist. Die Wege hinter der Bühne haben einen eigenen Rhythmus gebildet und wenn der Derwisch an mir vorbei die Bühnenseite wechselt, Daja auf die Bühne rauscht und wieder herunterweht, sich bereitmacht, stehe ich automatisch auf. Rechts sammelt sich Nathan für die nächste Szene. Lessing ist kein Pappenstiel, Hochleistung für die iranische Zunge von Mohammad-Ali Behboudi oder die blutjunge von Paula, die mit jeder Vorstellung so deutlich in ihrer Rolle wächst, dass es eine Freude ist. Ich habe meine Lieblingsstellen und versuche so viel wie möglich aus der Seitengasse zu sehen. So verpasse ich beispielsweise nie, wenn Tempelherr und Recha sich verlieben oder der Patriarch Nathan auf den Scheiterhaufen wünscht. Ein besonderer Satz vom Klosterbruder kann mich genauso begeistern wie die ganze Ringparabel, ich genieße die Not in Dajas Stimme genauso wie den Schlagabtausch mit dem Derwisch, dem alles Materialistische sowieso schwer auf den Keks geht und ja – ich liebe Lessing. Er ist kein Superstar wie Goethe oder Schiller, doch gäbe es beide so nicht ohne ihn, den Vorgänger, der sich nie seine Meinung hat beugen lassen und ein unbequemer, knallharter Denker war. Hochachtung und Dankbarkeit hat man ihm nicht verwehrt (hab’ ich von Reich-Ranicki geklaut), doch wird es Zeit, ihn zu lieben wie die Räuber von Schiller oder den Werther. „Ach, du liebe Zeit, Nathan, wie langweilig!“ „Oh, nee, das hatten wir auch in der Schule, da schläft man ja ein.“ „In diesen 4-Stunden-Klopper geh’ ich bestimmt nicht.“ Nein, er ist ganz wunderbar, der Nathan. Dieser Nathan. Und bestimmt keiner schläft ein in den zwei Stunden, die dieser Nathan dauert, der lebendig, klar, frech, knackig und mir reine Freude ist.
Heute ist Bergfest.
Noch einmal so viele Vorstellungen, bis zum 30. Oktober, dann ist Feierabend. Noch viele Male also, in denen ich meinen Kollegen lausche und zusehe, bis ich selbst raus muss. Noch 15 Mal Nathan, anschließend ab ins Schütter’s eins oder zwei, wie kann es anders sein.
Ich freu‘ mich auf Euch, stay tuned,
eure Karime.

 

 

Lupenreine Brillianten – Maier, Kogge, Boysen als Ritter, Dene, Voss.

Das Wichtigste zuerst:
Wer jemals ins Theater gehen wollte, sollte es JETZT tun, bis kommenden Sonntag, in die Hamburger Kammerspiele in der Hartungstraße. Danach müsst Ihr sie jagen, forschen, wo sie es spielen:
Imogen Kogge, Ulli Maier und Markus Boysen in „Ritter, Dene, Voss“ von Thomas Bernhard.
Aber WAS bitte ist das – „Ritter, Dene, Voss“?
Keinen blassen Schimmer, oder? Macht nichts, ich sag’s Euch.
Und dann jagt sie.
Ich mach’s kurz: Thomas Bernhard (1931-1989) ist einer der ganz großen zeitgenösischen Autoren, das Theater ist undenkbar ohne ihn. Dieser Visionär hat nun Mitte der 80er Jahre eine Liebeserklärung von einem Stück geschrieben. Und damit die Aufführung auch seinen Vorstellungen entsprach, hat er die Besetzung gleich in den Titel geschrieben:
Bitte mit Ilse Ritter,
auf jeden Fall Kirsten Dene und
gefälligst nur Gert Voss, kurz:
Ritter, Dene, Voss.
Worum geht’s? Geschwisterliebe – zu dritt. Keine Sekunde langweilig, aber bitte weiteratmen. Ich will es garnicht beschreiben, das muss man einfach sehen.
1986 in Salzburg uraufgeführt, spielte das sich Trio Infernal über fast 30 Jahre mit diesem ihnen gewidmeten Stück in die Tiefen des Wiener Burgtheater-Herzens, bis 2014, als Gert Voss verstarb. Nun zu vorgestern Abend in den Kammerspielen.
Markus Boysen, dieser eingeborene, über Jahrzehnte geniale Mime, hat sich getraut und „Ritter, Dene, Voss“ zu neuem Leben erweckt. Klug gewählt hat er seine beiden Bühnenschwestern Imogen Kogge und Ulli Maier, die im Dreieck spielen, bis man die Knochen sieht und ob dies ein Drama oder komisch ist, weiß ich nicht. Der Zuschauerraum ist prall gefüllt mit ihren Emotionen, die einen geradezu physisch treffen und man will sie nicht aus den Augen lassen, keinen von ihnen, so fein und echt ist alles.  Ich hätte sehr gern das erste Deutschland-Spiel gesehen, wirklich, hab‘ ich aber nicht. Ich musste mich entscheiden und habe es getan. Für „Ritter, Dene, Voss“, für ein Stück, das wohl keiner kennt, der das Theater nicht gewöhnt ist, keine Kinostars, wenn der Vorhang sich hebt, sondern Giganten – des Theaters. Mehr geht nicht, und man kann es leicht versauen. Haben sie aber nicht. Der Regisseur Jasper Brandis und die Ausstattung von Sabine Kohlstedt lassen Maier, Kogge und Boysen Raum zum Atmen und den nutzen sie,  das tun sie. Sie spielen nicht, sie sind.
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Die Nationalelf kam auch ohne mich zurecht und ich – hätte nicht glücklicher sein können an diesem Abend, ich wurde geradezu genährt. Dass diese drei am Ende frenetisch gefeiert werden, scheint mir normal.
Seit 22. Mai bis kommenden Sonntag, den 19. Juni spielen sie dies Kammerstück noch. Keine Ahnung, wo sie es wieder tun werden!
Wenn ich’s weiß, sag‘ ich Bescheid. Folgt mir, dann wisst Ihr’s auch.
Macht Euch glücklich.
Stay tuned,

Eure Karime

 

 

 

 

 

Langweilig geht anders – plattform-Festival am EDT

Ich gehe viel ins Theater, weil ich es liebe. Allerdings geht es mir dabei weniger darum, bestehende Theater-Arten und-Formen bestätigt zu wissen, sondern ich mag mich gern überraschen lassen. Also schmiss ich mich hinein ins plattform)))-Festival zum Thema MUT, 24.-27.02.2016 am EDT am Friedrich-Schütter-Platz. Dass ich meiner Neugier den Vorrang gegeben habe vor anderen herrlichen Dingen, die ich ja auch hätte tun können, freut mich noch immer! Über Jahre fördert und erarbeitet das größte Privattheater Deutschlands diesen unglaublich wichtigen Teil Kultur der Jugendarbeit am Theater. An alle Eltern und Schüler sei gesagt, dass junge Menschen nicht nur nachweislich besser drauf sind, wenn sie ihre Seelen bei Probe und Premiere umkrempeln, sie bereichern damit zukünftig ausnahmslos jeden Bereich der Gesellschaft, indem sie je tätig werden. Sie sind lockerer, toleranter, und ja – was soll’s – auch more sexy. Klingt albern? Och nö.
Das wohl schon 6. Festival umfasste die Arbeit von 6 Jugendclubs in 10 Programmpunkten. Drei davon habe ich gesehen.

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1. Streich – Festivaleröffnung, Mittwoch, 24.02.2016 20:00 Uhr, Hauptbühne:
Nach gewohnt flüssiger Eröffnungsrede der Intendantin mit gefühlt 1001 Namen- keine Ahnung, wie sie das macht! – hieß es Bühne frei für vier Festivalgruppen, die sich mit jeder Faser ihres jungen Seins, so scheint es mir, auseinandergesetzt haben mit dem Thema Mut. Was ist das überhaupt? Wann ist Mut Mut und wann Dummheit? Bin ich das oder werd‘ ich’s nie und kann ich mutig sein auch üben oder gar lernen? Was bedeutet das erste Mal mutig gewesen zu sein für meine Zukunft? Vier Performances, so unterschiedlich wie die Jahreszeiten, die jungen Akteure zeigen sich verletzlich und wirken echt. Die fließend ineinander gehenden, von ihnen erarbeiteten Szenen schaffen mir Assoziationen zu Dingen, die mir außerhalb des Theaters, in der „wirklichen Welt“ begegnen, Tag für Tag, mir fallen Szenen aus meiner Kindheit ein, die ja schon eine Weile zurückliegt, als ich so alt war wie sie, wie dieser wilde Haufen da oben; dieser wilde Haufen, der sie gottlob geblieben sind, denn hier hat sich keiner totinszeniert – wie schön.
Wie bei allen Produktionen am Haus bei einer Vorstellung pro Stück und so auch hier bei der Eröffnung, die Begleitung des Abends durch Gebärdendolmetscher. Und wieder konnte ich mich nicht sattsehen an dieser logischen Grazie. Ich bin kurz davor, einen Kurs zu belegen, so sehr fasziniert mich die kommunikatorische Anmut. Der inklusive Jugendclub rückt als dritte Gruppe erstaunlich offen ins Rampenlicht und zurecht, was sich gesellschaftlich im Bereich der Gehörlosen scheinbar in Schieflage befindet: die Art der Wahrnehmung ihrer Persönlichkeiten im täglichen Leben unserer Gesellschaft. Ja, auch hier rattert etwas in meinem Kopf, sehr angenehm. Wenn man das will. Ja, ich will.
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2. Streich – Protest/Foucault, Donnerstag, 25.02.2016 19:00 Uhr, plattform-Bühne: 
(eine Treppe runter neben dem Bühneneingang des Theaters)
Hier war ich noch nie, was für ein Versäumnis! Hier wirkt sie also, die Gruppe Theatrales Philosophieren. Von allen 10 Performances ist diese hier die einzige, die noch zweimal aufgeführt wird, am Mittwoch und Donnerstag dieser Woche, den 02.+03.03.2016 um jeweils 19:00 Uhr. Und das sollte keiner verpassen, der irgend kann. Ab in die Katakombe neben dem Bühneneingang, geht allein oder nehmt euch ein paar Freunde mit, auch wenn die sonst keine Lust auf Theater haben. Egal, das passt schon, denn: Ihr werdet’s nicht bereuen. Ich möchte kaum etwas zum Bühnenbild sagen oder zur Inszenierung, besser Kultivierung; denn was immer ich erzähle, könnte eine Vorstellung geben, könnte Euch berechnen lassen, was da passiert, und das wäre schade. Keine Sorge, kein Mitspiel-Theater erwartet euch, ich weiß, das macht richtig Angst, Huuuuuh. Obwohl DAS geht an Info: Schenkt Euch ruhig den Bio-Wein ein, der auf den gedeckten Tischen steht, esst die Oblate auf eurem Teller, denn ihr seid Gäste. Gäste, die eingeladen sind zu vielleicht einer Hochzeit, Trauerfeier, einem Geburtstag oder Schulabschluss. Und bleibt auch zum Gespräch am Ende, es wurden lauter Fragen gestellt und die jungen PhilAkteure gehen in Kontakt und in die Fragen hinein, das war angenehm. Traut euch, denn das ist auch euer Festival zum Thema Mut. Ich habe den Mut und die Ehrlichkeit bewundert und genossen, die ich dort sah, es hat Freude gemacht und  lauter wilde, gute Gedanken. Und Foucault? Ging mir bis dahin am Allerwertesten vorbei. Jetzt will ich ihn lesen, unbedingt.
Also, nochmal: 02.+03.03.2016 um jeweils 19:00 Uhr plattform-Bühne!
Und am 20.-22.03.2016 Protest/Foucault/Luther In der Kulturkirche Altona St. Johannis.
Da geh‘ ich auf jeden Fall hin! Hoffentlich finde ich danach nicht, dass ich die Bibel lesen muss….
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3. Streich – Die Räuber/Jugendgroßprojekt frei nach Schiller, Samstag, 27.02.2016 19:00 Uhr, Hauptbühne
Vorletzter Festival-Akt, bevor die Karaoke-Party im Foyer gezündet wird. Ich bin ein bisschen spät wegen riskanten Parkens und eile am Bühneneingang des Theaters vorbei, wo eine Gruppe Weißgekleideter auf dem Gehweg im Kreis ihre Energie einen, als eine Kollegin wohl
, weil auch in weiß, aus einem Fenster ins Dunkel der Straße grölt: „Sein letzter Seufzer war Amalia!“ Wieder und wieder, klar, die Räuber. Wie ein Rennpferd in der Startbox hängt sie im Fensterrahmen und wiederholt kraftvoll, dramatisch und gutgelaunt, was ich mit Sicherheit noch öfter hören werde an diesem Abend. Mal sehen, was wird. Und es wird – unerwartet, bunt und ja – mutig. Die am Bühneneingang bereits sichtbare Spielfreude setzt sich weiter fort im Rampenlicht und ich habe den Eindruck, der professionelle Rahmen, den das Theater gewährleistet, Licht- und Bühnentechnik, Kostüm, Maske und die vielen Menschen im ausverkauften Haus berauschen sie alle. Sie machen keinen Rückzieher. Franz und Karl Moor, Amalia, sie treten gruppenweise auf: Fünf Amalias, von Jungen gespielt, die gegensätzlichen Brüder von jeweils mehreren (5?) Mädchen, wobei die Karls wertvoll in weiß mit Gold, die Franzen in Schwarz mit verruchtem Flair gewandet sind. Die Maske mutet an Kabuki-Theater an, weißlich mit dunkel ausgepuderten Augenwinkeln und starken Augenbrauen.  Ausgewählte, schlüsselhafte Szenen aus Schillers Riesenhit sind hier glaubhaft in junge Glieder gefahren. Viele Texte werden im Chor gesprochen, was viel Kraft freisetzt, allerdings auch den detaillierten und differenzierten Ausdruck der jeweiligen Figur erschwert. Ich kenne das Stück gut, daher stört mich das Fehlen mancher Facette nicht, ist dies doch eine Auseinandersetzung frei nach Schiller. Ohne Welpenbonus für Jugendtheater wünschte ich der Inszenierung darüber hinaus mehr Aufmerksamkeit und Raum für den Vater der Brüder, der meiner Meinung nach als Figur etwas zu kurz kommt. Noch ein sprachlicher Punkt, dann bin ich wieder glücklich, ist „Ärde“ statt „Erde“, „wärde“ statt „werde“. Fällt wahrscheinlich kaum jemandem auf und sollte auch nicht ablenken von dem Gesamteindruck, der – im Wechsel mit vier andersartig darstellenden Gruppen – Tanz, Performance, Bildende Kunst, Musik – einen überaus inspirierenden Abend geschmettert haben. Und diese überbordende Kraft und Spiellust, dieses Jetzt-oder-nie-Gefühl dieser Masse an jungen Menschen auf einer Bühne, die sie nicht jeden Tag betreten und wer weiß, wann wieder ausverkauft, trägt seinen euphorischen Teil dazu bei, so lange zu klatschen, bis die glühenden, glücklichen Gesichter sich wieder und wieder zeigen, denn sie wissen – ich sehe es – sie haben ihre Sache gut gemacht. Mut bewiesen. Das kann ihnen keiner mehr nehmen. Amen.

Stay tuned, eure Karime.

Eishockey, Eva & Amsterdam 1944

LogBuch Samstag, 20. Februar 2016
Ich hatte mich verpflichtet, beim PlayOff-Spiel der HSV Regionalliga Nord die gegnerische Strafbank zu betreuen – Tür auf, Delinquent mit eindrucksvollem Trikot-Odeur rein – rumpel, rumms, fluch, setzen. Nach meist 2 Minuten den adrenalinsüchtigen Wildfang wieder plopp! (der Spieler) und rumms! (das war die Tür) aufs Eis in die Freiheit entlassen. Ich liebe Eishockey hautnah, muss allerdings dieses Thriller-Spiel nach dem 2. Drittel verlassen und ersetzt werden, denn ich muss los ins Abaton-Kino. Der Instinkt hat mich getrieben; eine Eva soundso liest aus einem Buch, Markus Lanz moderiert, dann gibt’s noch eine Doku, irgendwas mit Asyl, ach ja – No Asylum, Briefe von Otto Frank. WAS? Otto Frank, der Vater Anne Franks. Instinkt an Gehirn: Da will ich hin. Wie so oft stolpere einfach drauf zu, oft eine verdammt gute Idee….und stolpern kann ich gut. Sicherheitshalber hatte ich mir am Tag zuvor eine Karte reserviert, was nach Aussage der Telefon-Lady nicht nötig war, weil der Andrang derzeit nicht groß sei – unglaublich, wie desinteressiert die Menschen so sind, denke ich. Also locker Zeit, Parkplatz krieg ich immer. Als ich beim Kino ankomme, werde ich schmerzlich eines Besseren belehrt. Ich habe die Rechnung ohne 3nach9 gemacht, wo die Autorin am Vorabend zu Gast war. Menschentrauben drängen und wabern nun um und in den Eingang, der völlig verstopft ist, an einen Parkplatz ist nicht mehr zu denken. Kurz vor Veranstaltungsbeginn ziehe ich noch immer verzweifelt Kreise, meine Karte ist dabei zu verfallen, weil ich sie nicht rechtzeitig abholen kann. Gleich wird irgendeiner von den „massenhaft Desinteressierten“ meine Karte bekommen! Ich hole schon Luft um – was ich mir höchst selten gestatte – zu fluchen wie ein Müllkutscher, dann endlich – ja! – ein winziges Plätzchen, halblegal, für das kleine Auto. Schnell raus, Sprint zum Kino, bitte, lass‘ es nicht zu spät sein. Ich hechte vorbei an den Menschen, die am Abholschalter stehen und spreche einen Herren an, er möge doch bitte bitte meine Karte mit abholen, ja? Er zeigt auf seine Frau, sie sagt mit unverständlichem Nachdruck „ich bin seine Frau!“, ich bitte sie nochmals und verkneife mir die beruhigende Bemerkung, dass ich nur die Karte, nicht aber ihren Mann wolle. Ja, es ist noch da, mein Ticket  für eine Lesung mit Doku, Briefen von Otto Frank, Eva, ja was. IMG_1584
Befriedet lasse ich mich in einen der herrlich roten Sessel im Kinosaal fallen. Angekommen. Es geht los.
Sie heißt Eva Schloss, das werde ich nun nicht mehr vergessen. Sie spricht mit einem leichten von-allem-etwas-Akzent/Dialekt, ich höre ein wenig Wien, Holland, ein bisschen auch London vielleicht, wo sie schon längst lebt, diese 86jährige Lady. Sie liest Passagen aus ihrem neuen Buch Amsterdam, 11. Mai 1944 (ich werd’s lesen und berichten!). Zwischen den einzelnen Passagen spricht sie über damals. Herr Lanz lässt sich nicht lumpen, er macht das versiert und ganz fein.
Ich sehe nur sie.
Da sitzt sie: Aufgeräumt, gut gelaunt, auch bewegt, so ehrlich, so klar, nimmt kein Blatt vor den Mund. Einfach eine süße Frau, ganz wunderbar, ich gewinne sie lieb, das geht ganz schnell. Kein Mitleid, sondern Mitgefühl im reinsten Sinn, das empfinde nicht nur ich. Neben mir ein Paar, das sich immer wieder Tränen aus den Augen wischt. Wie ich. Wie viele andere. Es sind „gute“ Tränen, weil wir fühlen und verstehen. Das macht diese kleine, zarte Frau da oben. Nachdem sie den letzten Abschnitt aus ihrem Buch gelesen hat, ist Ruhe im Saal. Stille. Als ich wieder denkfähig bin, ist die Fragerunde längst durch. Ich versäume auch das Kaufen des Buches, will sie lieber weiter ansehen, diese Brücke hin zu einem Verständnis über eine Katastrophe, zu der ich und die nachfolgenden Generationen kaum Zugang haben. Aber ich, wir, haben jetzt Eva. Im Geiste duze ich sie.

Nach kurzer Signierpause geht es sofort weiter mit der Dokumentation No Asylum der Regisseurin und Produzentin Paula Fouce über die vor wenigen Jahren entdeckten, schriftlichen Versuche Otto Franks, seine Familie 1940 in die U.S.A. außer Landes und in Sicherheit zu bringen – vergebens, wie wir wissen. Zeitzeugen kommen zu Wort, unter ihnen auch Eva Schloss, und schließen viele Lücken darüber, was vor und nach der Deportation mit den Familien Frank und Schloss geschehen ist. Zum ersten Mal sehe und höre ich Otto Frank. Rechts von mir, ein paar Sitze weiter, sitzt Eva Schloss. Bei einigen Szenen verdeckt sie die Augen. Das kennt sie und muss es nicht mehr sehen.
Sie war da, in Amsterdam, nach dem Verrat im KZ Auschwitz-Birkenau, sie hat überlebt. Jeder, der das überlebt hat, wird mir wieder einmal klar, hat ein Wunder erlebt. Der Film lässt uns zurück mit der Frage, welche Lösung es gibt für die Gewissheit, dass so ein perfider Massenmord, auch unsinnige Ablehnung von Asylbegehren, schlicht Unmenschliches in jeder Art verhindert werden kann.
Ehrlich, die Antwort ist einfach: Verstehen wollen.
Wenn ich verstehen will, komme ich der Gewissheit ziemlich nahe, das ist der einzige Weg. Wenn ich verstehen will, interessieren mich auch die entsprechenden Filme, Bücher (ich werde berichten!), die nicht den Zeigefinger heben, sondern mit mir sprechen, mich an Zusammenhänge heranführen, zu einem Wissen, dass ich nicht habe, und die genau dies auch wissen und mich an die Hand nehmen. Denn ist der Schüler bereit, erscheint der Meister…
Obwohl die Veranstaltung nun wirklich vorbei ist, drücke ich mich noch ein wenig herum. Dann gibt es für mich noch einen kleinen, kostbaren Moment. Ich frage Eva Schloss, wo sie sich nach all den Jahren beheimatet fühlt. Pause. Dann antwortet sie mir. „Ich fühle mich eigentlich nirgendwo zuhause.“ Ja, das kann ich verstehen.
Ich nehme ihre Hand, will sie drücken, doch dann – dann küsse ich sie. Und Eva, Eva lacht.
Stay tuned, und:
Schaut, wo Ihr den Film zufassen bekommt, ich glaube fast, er hat keinen Verleih, sonst kann man bestimmt die DVD kaufen, das lohnt sich.
P.S.: Oh, ich erfahre grad, hat doch einen Verleih – Roco Film.
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Ich glotz TV: „Der Fall Barschel“

FAZ, Die Zeit, STERN, Süddeutsche – die Großen haben längst alles gesagt, gefragt und geantwortet zum Thema dieses 3-stündigen Monumental-Fernsehfilms. VOR der Ausstrahlung gestern Abend zur ARD Primetime.
Und all diese Artikel habe ich auch gelesen. Allerdings erst letzte Nacht…

Längst ohne Fernseher, speichere ich Seiten mit für mich relevantem Inhalt auf FaceBook, so auch die Seite von Schauspieler Alexander Fehling. Sein Post über ein Interview zur Produktion „Der Fall Barschel“, indem er die Hauptrolle spielt, ließ mich aufhorchen und mir war klar – ich muss fernsehen. An einem Samstag Abend!! Hätte nicht gedacht, dass mir das nochmal passiert.
Im ARD Live-Stream mit Kopfhörern auf meinem iPad; 3 Stunden, keine Werbung.
Und dann war ich weg. Total. Parallel-Universum. Was ist passiert?
Ich habe das absolut Beste gesehen, was mir die Öffis je geboten haben.
Und weil ich so überwältigt, so aufgewühlt war und nicht schlafen und niemanden anrufen konnte – nicht wegen Fernsehen, mir gings ja gut! – habe ich also fiebrig das Netz durchpflügt nach mehr, mehr, mehr über dieses brisante Filmepos; mein leidenschaftlicher Geist brauchte einen Hafen für den losen Anker, der er nun war. Ich war erschüttert.

Regisseur Kilian Riedhof hat mit Marco Wiersch ein so dichtes und kluges Skript geschrieben, das es schafft, den Strudel der Ereignisse, in den Uwe Barschel geraten zu sein sehr deutlich scheint, auf die Hauptfigur David Burger zu übersetzen, wodurch mir die ganze emotionale Bandbreite des Falls durch das Erleben von Alexander – äh, dem fiktiven Jouralisten David Burger (Mist, wenn Schauspieler zu gut sind) so klar wurde, dass ich als ein einziges Verstehen zurückbleibe. Wusste nicht, dass ich so etwas fühlen kann. Jetzt schon.
Was für ein Regisseur (wundert mich nicht, dass er auch HOMEVIDEO gemacht hat), der wirklich alle Schauspieler auf eine Weise führen kann, dass sie so vollkommen aufeinander reagieren. Edgar Selge als Chefredakteur hat mich fast zum Weinen gebracht. Ich war dabei, konnte die Qual von David Burger (AF) physisch spüren. Die Niedertracht des Umfelds, die Gnadenlosigkeit, die langsam um ihn herum immer weiter sich anschleichende Angst, dem nicht mehr gewachsen zu sein, war MEINE Angst.

Alexander Fehling mit seiner knackig-klaren Sprache, die schon allein rattenfängerisch wirkt, tritt in keine einzige Falle einer solch großen Rolle, und Fallen gibt es viele, denn er ist ja wirklich ein richtig schöner Mann und das kann schwer werden, wenn der Regisseur diese Karte spielt. Aber er darf klar bleiben, ist ehrlich in wirklich jeder Gefühlslage, ich glaube ihm alles. Ich hätte es wissen müssen nach „Wir wollten aufs Meer“, „Wer wenn nicht wir“ oder „Goethe!“ – he’s a decent genius…
Und die Produzentin Ariane Krampe, ja die könnte ich glatt küssen- virtuos, die ganze Produktion.
Egal, was Ihr am Samstag, den 13.02.2016 um 20:15 Uhr vorhabt – absagen:
Im ARD EinsFestival kommt er noch einmal, „Der Fall Barschel“.
Stay tuned, Eure Karime
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„Die Opferung des Gorge Mastromas“ Gegenkritik versus „Die WELT“

It’s been a while….aber das kommt wann anders, denn jetzt liegt mir was im Magen.
Selten ärgere ich mich so sehr, aber das geht zu weit und muss nun doch raus:

Tatort:  Ernst-Deutsch-Theater, Hamburg
Tatzeit:  21.01.2016 zwischen 19:30 und 21:30 Uhr
Opfer:  Premiere „Die Opferung des Gorge Mastromas“ von Dennis Kelly
Dringend tatverdächtig:  Redakteur/in der renommierten Tageszeitung „Die Welt“ namens „MN“ mit einer sogenannten Kritik, erschienen am 23.01.2016.
Tathergang (soweit mir bekannt):  Auch ich saß an diesem 21. Januar im gewohnt vollbesetzten Haus am Friedrich-Schütter-Platz. Ganz gegen meine Gewohnheit begab ich mich diesmal ohne blassen Schimmer über irgendetwas in mein liebstes Parallel-Universum – ins Theater. Keine Ahnung von Autor und Stück – manchmal ganz wunderbar – lasse ich mich in die erste Reihe fallen. Vorhang auf und los.
Im brutal kühlen Licht von Rolf Spahn breitet Regisseur Peter Lotschak mit smartem Ensemble schlank die Geschichte von Gorge Mastromas vor mir aus, der, satt von braver Mittelmäßigkeit, immer wieder eine Entscheidung trifft, die ihn zügig nach oben, aber auch immer weiter von sich selbst wegtreibt. Die Dialoge sind rasant wie der von Gorge erstrebte Aufstieg, straff zieht etwas weiter, was sich irgendwann verselbstständigt und nicht mehr steuern lässt. Kein Emotionstheater, sondern konsequent in seiner Unaufhaltsamkeit. Am Ende bleibe ich betroffen zurück, habe aber Raum genug für meine eigenen Gedanken hierzu, ich fühle mich nicht indoktriniert, was leicht passiert bei einem Stück über schleichende Entmenschlichung durch Private Equity im Neoliberalismus, wenn der Regisseur nicht aufpasst. Was er hier definitiv getan hat. Und so hat das Ensemble nicht draufgehauen, sondern sich auf die Sprache, das Stück und  – aufeinander verlassen. Ein Stück, das atmet und mich braucht als fühlenden Menschen, ohne Frage unkonventionell mit nur marginalen Schwächen, modern im besten Sinn.
So.
Und nun kommt MN mit diesem Artikel in „Die Welt“.
Ich würde es ja gern Verriss nennen, so etwas kommt vor, berechtigt mitunter, das belebt und beflügelt eine Diskussion, die hoffentlich genau in dieses Theater führt, aber leider – nichts zu machen, Frau N! Ich kenne Sie nicht, aber jeder einzelne Satz in Ihrem Artikel lässt mich glauben, dass Sie einfach, ja – keinen Bock hatten, deshalb natürlich nicht zugehört haben, schon lange satt sind und das Theater nur noch verbittert betrachten, wenn nicht gar abgrundtief hassen und völlig enge Denkkammern keinen Platz mehr haben für ein Heute. Für mich ein Fall von Job schlecht erledigt. Ja, auch das das kommt vor, man ist nicht immer gut, wie Sie sicher wissen und manches Mal auf einer Bühne erlebt haben. Nur frage ich mich, wofür diese Abschlachtung – ja, das trifft es am ehesten. Abschlachtung nach ausgiebiger Beleidigung und Demütigung aller Beteiligten. So heißt dies Stück des mehrfach preisgekrönten Engländers im Original passenderweise auch The Ritual Slaughter of Gorge Mastromas. Bei Ihnen freilich ohne Ritual, sondern nur blindlings. Und mit Verlaub wirklich schlecht, obwohl Sie reichlich fundiert erworbene Fachbegriffe zum Besten geben, die den Anschein erwecken sollen, Sie wüssten richtig gut Bescheid. Hier mitnichten.
Eine Theaterkritik? Ganz sicher nicht, Frau Monika Nellissen (jetzt weiß ich’s). Ich verzichte hier absichtlich auf Zitate, weil ich platte Gemeinheiten zu wiederholen mir schon lange abgewöhnt habe. Schlechtes sollte nicht weitergegeben werden, ist nicht gut fürs Karma. Kritisches dagegen schon und ich frage mich grad, ob ich Ihnen verzeihen soll, einem Theater so boshaft schädigen zu wollen und dafür noch entlohnt zu werden.
Ja. Ich denke schon, denn:
Jeder ist mal grottenschlecht, ich vergebe Ihnen, allerdings – hat das eine Chefredaktion wirklich gecheckt und für gut befunden oder wie läuft das so? Da muss ich mal fragen….

Schluss jetzt. Freunde! ab ins Theater! „Die Opferung des Gorge Mastromas“ läuft noch bis 21.02.2016. Dann sagt mal Bescheid…..aber ja, ich liebe Euch auch.
A bientôt (ich kann gar kein Französisch),
Eure Karime

Mastromas2
Smartes Ensemble – von links: Wanda Perdelwitz, Christian Meyer, Julian Mehne (Gorge), Jörg Seyer, Markus Knüfken.

 

 

 

 

 

Mein Tag der Deutschen Einheit – MALALAI

16 Jugendliche, 14 Jungen und zwei Mädchen. Sie sind zwischen 3 und 9 Monaten bereits in Hamburg – unbegleitet. Sie sind in Einrichtungen untergebracht, lernen Deutsch. Manche warten auf ihre Familien, andere nicht.
Sie kommen aus Afghanistan.
4 Erwachsene gründen 2011 Parallelaktion, um spartenübergreifend Kunstprojekte auf die Beine zu stellen, die so im handelsüblichen Kulturbetrieb nicht stattfinden: Albert Lang (Professur TU Berlin), Nicolas Wackerbarth (Regisseur, Autor, Schauspieler), Sören Canenbley (Schauspieler, Medizinstudent) und Isabella Vertes-Schütter (Intendantin, Schauspielerin, Politikerin).
Und – Malalai, die vor etwa 35 Jahren von Kabul über Pakistan in Ostberlin landete, heute einen Bioladen am Prenzlauer Berg betreibt. Ihre Geschichte wird hier erzählt, in der Hochschule für bildende Künste am Lerchenfeld um 17:00 Uhr, welche die Aula, Tische und Stühle zur Verfügung stellt für die Produktion MALALAI – ein afghanisches Gemeindefest. Ehrlich? Keine Ahnung, was auf mich zukommt. Es wird nur diese eine Veranstaltung geben, deren veranstalterische Form leicht und locker scheint, was sofort erkennbar wird, als ich den Saal betrete. Hohe Wände, im oberen Teil Jugendstilgemälde ringsum, zwei Bühnen, an jedem Ende des Saales eine, die zwecks Filmprojektion jeweils mit Leinen verhängt werden können. Dazwischen festlich gedeckte Tische für etwa 200 Gäste, ein langes Buffet mit afghanischen Spezialitäten, von Malalai gekocht und von Gästen mitgebracht, der unverkennbar köstliche Reisduft verrät es sofort. Aber ich habe keinen Hunger, bin nur noch neugierig, denn der Saal füllt sich schnell und ist ruckzuck brechend voll, es wird warm und ich bin nicht mehr länger in Hamburg, sondern ohne Lösen einer Fahrkarte mitten im Orient gelandet. Lautes Stimmengewirr verschiedener Sprachen, die ich sämtlich nicht beherrsche, Orient halt, klar.
Es geht los. Nun wird im Wechsel auf beiden Bühnen in unterschiedlichen, sich immer wieder abwechselnden Kunst – und Darstellungsformen sehr bildhaft die Geschichte von Malalais Weg nach Deutschland erzählt. Shahed Naji aus dem Libanon und Dragan Denda aus Sarajevo (beide Absolventen Masterstudiengang Bühnenbild Szenischer_Raum) haben mit den Mädchen und Jungen eine Art Legetrick mit Lesung erarbeitet, die live abgefilmt und auf die Leinwand der Bühne gegenüber projiziert wird. Warm und stark fächert sich Malalais Geschichte vor uns auf.
Immer wieder eingerahmt von musikalischen Einlagen, nein – kleinen, wundervollen Konzerten der Jugendlichen im Alter von 13 bis 16 Jahren, zieht mich der Charme dieser immer stärker werdenden Energie in seinen Bann. Die Bühnen mit Teppich und Sitzkissen muten wie orientalische Picknickpodeste an (Danke EDT), die Jungs sitzen im Halbkreis, einer singt und spielt Hammonium, ein anderer trommelt, die übrigen unterstützen klatschend und singen leise mit. Längst ist mir klar, hier schlummert Talent. Einer der Höhepunkte sind die Klappmaulpuppen, jede ein orientalisches Charakteristikum, deren Bau und Spiel Peter Räcker und Wolfgang Buresch mit den jungen Afghanen/innen hergestellt und geprobt haben. Die Episoden werden im Stehen mit viel Mutterwitz gespielt, den man sogar ohne Sprachkenntnis fast verstehen kann. 2Mädchen2PuppenWieder Musik, Gesang, Tanz, ein Film, diesmal mit deutschen Untertiteln, in dem die Youngster afghanisch/iranische Spezialitäten kochen. Wieder Musik, sie wird mir vertraut; immer mehr Tanz. Ein Lied muss ein Hit sein, denn der Saal tobt, die Tänzer legen noch eine Schippe drauf und unsere Herzen gehören ihnen. Sehr fein und pur ist ein Video: wir sehen Malalai selbst mit einer Kamera; sie möchte diese kraftvolle, begabte Bande nicht vergessen. Jeder sitzt abwechselnd auf einem Hocker, sagt Name, Herkunft, Alter. Malalai bittet sie Deutsch zu lernen, damit sie schnell im deutschen Bildungssystem Fuß fassen, Abitur machen und studieren können. Das wünscht sie sich von ganzem Herzen. Scheu legen die 16 das Versprechen ab. Ja, Malalai soll stolz auf sie sein. Sie weiß, mit Volljährigkeit wird es kritisch, wenn das Deutsch nicht sitzt. Bei diesen Wirbelwinden allerdings habe ich keine Sorge. Manche sind nach nur drei Monaten sprachlich so fit, dass sofort der Wunsch entsteht, ihnen den Weg frei zu machen. Inzwischen doch am Buffet gelandet, drückt mir die Intendantin vom EDT eine Linsensuppe in die Hand – die Chefin selbst steht den ganzen Abend hinter einem Riesentopf und schenkt aus. Sie hat hier Flagge gezeigt und ist mit einer Riege vom Theater angerückt: Regieassistentin Luise Peters und Veranstaltungstechniker Ole Jahncke haben einen reibungslosen technischen Ablauf hingelegt und waren so glücklich wie wohl alle, die hier schwitzen durften.
Nach knapp 2 ½ Stunden klingt dieses Kraftwerk aus, genauer gesagt, die Vorstellung ist vorbei, aber das Fest ist nicht aus, kaum einer will hier schon gehen und ich bin ein bisschen afghanisch besoffen. Besoffen von der geballten Lebenskraft, dieser geradezu beglückenden Ausstrahlung, die von den 16 Energiebündeln immer wieder von beiden Bühnen ins Publikum geströmt ist. Und während der Saal sich langsam leert, bildet der harte Kern klatschend einen Kreis, die Musik kommt nur noch vom Band. In der Mitte, mit Malalais smaragdgrünem Tuch geschmückt, bewegt der/die jeweilig Tanzende, genüsslich angefeuert, die Arme schweben schlangenartig elegant in der Luft, der ganze Körper Rhythmus. Das haben sie im Blut, ohne Zweifel, wie diese jungen Männer tanzen!
Ich sehe sie an, alle, jeden einzelnen.
Sie sind hier heute nicht angetreten, um auf sich aufmerksam zu machen als junge afghanische Flüchtlinge. Sie haben gearbeitet, geprobt, an vielen Nachmittagen bis spät in den Abend, um an diesem 3. Oktober zu zeigen, was und wo jetzt ihre Koordinaten sind, ihre Anknüpfungspunkte in diesem neuen Land – das sagt mir Sören. Und wahrlich, das haben sie getan. Durch die Art des Erzählens der Geschichte von Malalai haben sie sich gezeigt.
Ihre Kraft nach vorn war nicht zu übersehen, von ihrem Charme, ihrer offensichtlichen Intelligenz ganz zu schweigen.
16 junge Menschen, die auch glücklich sind. Wir haben es gesehen. Und jetzt ab in die Falle, ihr wart echt ‘ne Nummer!Combo_Afghan
Und wir? Haben etwas gelernt. Und danken euch:
Ahmed Seyar, Ali Reza, Edris, Ehsan, Elyas, Farshad,, Hares, Mojtaba, Narges, Nilab, Omid, Ramin, Sahar, Sahel, Sanam, Schahabedin und dir, Malalai.

Soviel zum Tag der Deutschen Einheit. Und was habt ihr so gemacht?
Stay tuned,
Eure Karime

Anne – ich sehe dich.

Das Licht ist aus, das war’s.
Ich kann mich noch nicht bewegen, nicht klatschen, denn in mir bewegt sich noch etwas, das Stille benötigt. Kurz kommt mir der Gedanke, nach Hause zu eilen um nachzusehen, ob sich in meinem Fischer Taschenbuch ein Loch befindet. Ein Loch, durch das Anne mit ihrer Familie hindurchgeschlüpft und in ein echtes Versteck, hier auf die Bühne gerannt ist. Absurd, ich weiß.
Inzwischen breitet sich in mir ein leichtes, stilles Glücksgefühl aus, dass ich immer dann verspüre, wenn ich verstanden habe – und das habe ich.
Das Autorenpaar Durlacher/de Winter hat Annes sprachliche Farbe und die im Tagebuch vorherrschende atmosphärische Temperatur behutsam und liebevoll auf die Bühne gehoben. Sie haben ein leises, wunderbares Stück geschaffen, das allerdings inszeniert sein will, es verzeiht keine Schlamperei in der Regie oder unter den Schauspielern. Genau in der Mitte von Zuviel oder Zuwenig liegt das ganze Heil dieses feinen Stückes. Und ich sehe bei allem Wissen um das Schicksal des Mädchens kein Drama im üblichen Sinne, ich sehe Anne und lerne sie kennen – wer sie war und wer sie hätte sein können.
Mit offensichtlichem Fingerspitzengefühl hat Yves Jansen sein 15köpfiges Ensemble geführt, dem ich als Familie agierend zusehe, wie Routine einkehrt im Versteck, sie sich mehr oder weniger arrangieren um des Überlebens willen. Ich spüre im Parkett, wie deren Zeit vergeht, sie sich zueinander verhalten, sich verändern, auch immer wieder komödiantische Elemente, deren Quelle unzweifelhaft Annes Sichtweise ist, das weiß ich von Kitty, ihrem Tagebuch. Die Ausstattung von Peter Schmidt lässt die ganze Inszenierung frei atmen, deren zweifelloser Erfolg eine Ensembleleistung ist. Kristin Suckow kann als Anne so wunderbar sein wie sie will – und sie ist wunderbar! – sie braucht ein starkes Ensemble, das genau weiß, was es tut. Und keine Überraschung – es kann. Ich glaube ihnen jedes Wort.
Ich klatsche, lang und anhaltend, laut soll es sein, ich rufe Bravo! wie so viele (und nicht „vereinzelt“), damit die da oben wissen, was ich ihnen sagen will:
Danke – ich habe Anne gesehen!
Und sie bleibt.
Bis zum 29. September auf der Bühne des Ernst-Deutsch-Theaters.
Für immer bei mir.

Eure Karime
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Heute Abend kommt sie. Anne.

Und sie bleibt bis zum 29. September.
Ich wünsche ihr das Beste.
No time to sleep – davon kann das gesamte Ernst-Deutsch-Theater wohl geschlossen ein Liedchen trällern. Erstaufführung, Foyer-Umbau, Schütter’sZWEI Neubau.
Und wo manche in die Hände gespuckt haben, spucke ich nun über die Schulter –
TOI TOI TOI.
Stay tuned.
Eure Karime.